Zentrale Kennzeichen des christlichen Lebens (Galater 6, 11-18)

Gliederung:

1. Mit Jesus Christus gekreuzigt (Galater 6, 11-15)

2. Dem Maßstab Jesu Christi folgen (Galater 6, 16)

3. Die Merkmale Jesu tragen (Galater 6, 17-18)

 

Einführung

Paulus betont am Schluss des Galaterbriefs (vgl. Galater 6, 11) nochmals, worauf es in Bezug auf den Glauben an Jesus Christus ankommt. Die zentrale Botschaft ist die Botschaft vom Kreuz Jesu Christi. Nur durch dieses Kreuz wird der Mensch gerettet. Dieser Weg Gottes zum Heil der Menschheit, der Jesus Christus ans Kreuz führte, ist für Paulus aber auch gleichzeitig der Maßstab für das Handeln derer, die an Jesus Christus gläubig geworden. Jesus Christus soll nun auch ihr Leben immer mehr prägen, und das auch in der Beziehung der Gläubigen untereinander. Das ist die zentrale Botschaft, die Paulus am Schluss des Galaterbriefs zusammenfassend betont.

 

1. Mit Jesus Christus gekreuzigt (Galater 6, 11-15)

Paulus schreibt in großen Buchstaben mit eigener Hand. Es handelt sich im Folgenden somit aus der Sicht des Apostels um sehr entscheidende Dinge. Um welche?

Im Zentrum steht die Frage, wie aus christlicher Sicht das alttestamentliche „Ritualgesetz“ eingeordnet wird. In den Gemeinden von Galatien ging es vor allem um die Frage, wie die Beschneidung am männlichen Glied und damit verbunden die Reinheitsvorschriften (u. a. in Bezug auf das Essen) einzuordnen sind. In den Gemeinden von Galatien gab es jüdische Christen, die diese für alle, auch für die Gläubigen aus den „Heiden“, für verbindlich und zur Rettung dazu gehörend betrachteten. Aus ihrer Sicht wäre es eine Vernachlässigung der Bibeltreue, wenn man diese Forderung aufgeben würde. Die Vorteile der Argumentation scheinen auf ihrer Seite zu liegen, zumal ja auch Paulus sich primär auf die Autorität der Heiligen Schrift beruft. Doch was ist das Problem? Paulus hat den „Eiferern um die Bibeltreue“ zwei Punkte entgegenzusetzen:

1. Man muss biblische Texte bzw. biblische Gebote in ihrem (engeren und weiteren) Kontext lesen. Ebenso versteht Paulus die einzelnen Gebote in ihrem heils-geschichtlichen Kontext. Für Paulus stehen die verschie-denen Gebote nicht also alle auf derselben Stufe. In 1. Korinther 7, 19 schreibt er z. B., dass die Beschneidung nichts ist und auch das Unbeschnittensein nichts ist, „sondern das Halten der Gebote Gottes“. Es gibt demnach für Paulus Gebote Gottes (in der Bibel), die auf einer anderen Stufe stehen als die Beschneidung. Auch diese Gebote können nicht als Grundlage für den Erwerb des Heils dienen, sondern können – ihn ihrer Tiefe – nur durch den Geist Gottes erfüllt werden, aber sie entsprechen dem Willen Gottes für alle Menschen zu allen Zeiten. Die Beschneidung ist nach der Bibel ein Zeichen des Bundes Gottes mit Abraham und seinen leiblichen Nachkommen (vgl. 1. Mose 17, 11; Römer 4, 11), nicht aber die Grundlage für den Bund. Sie soll zum Ausdruck bringen, dass Gott die Herzen der Menschen „bescheiden“ möchte (vgl. z. B. 5. Mose 30, 5ff.). Bibli-sche Gebote müssen also in ihrem historischen, literari-schen und heilsgeschichtlichen Kon-text beachtet werden.

Zu Josua hatte Gott am Anfang seiner großen Aufgabe als Nachfolger von Mose gesagt, dass er dann erfolgreich sein würde, wenn wer weder zur Rechten noch zur Linken vom Wort Gottes abweichen würde (Josua 1, 7; vgl. Josua 23, 6). In der jüdischen Mischna am Anfang des Traktats Abot (= „Väter“) heißt es:

„Mose hat die Tora (das ‚Gesetz’) vom Sinai her empfangen und sie dem Josua überliefert; Josua hat die den Ältesten (überliefert), und die Ältesten den Propheten, und die Propheten haben die den Männern der Großen Versammlung (Synagoge) überliefert. Diese sagten drei Dinge: Seid vorsichtig beim Richterspruch, stellt viele Jünger auf und macht einen Zaun um die Tora“ (Abot 1, 1).

Nach mAbot 2, 1 soll man „ebenso achtsam auf ein geringes Gebot“ sein „wie auf ein wichtiges, denn du kennst die Belohnung nicht“, und in mAbot 3, 12 wird betont, dass u. a. derjenige, der „den Bund unseres Vaters Abraham zerstört“ – womit der Beschneidungsbund ge-meint ist –, und wer die Festtage verachtet, „keinen Anteil an der kommenden Welt“ hat, auch wenn er „Erkenntnis der Tora und gute Taten besitzt“. Und mAbot 3, 13 ergänzt: „Die Überlieferung (massoret) ist ein Zaun für die Tora.“ Damit ist gemeint, dass die mündliche Überlieferung, die über die schriftliche Tora hinausgeht und auch auf die Sinai-Offenbarung zurückgeführt wurde, helfen soll, die schriftliche Tora vor der Übertretung durch den Menschen zu schützen.

Frage ist allerdings, ob das nicht ein „Abweichen zur Rechten“ ist. So hat das auf jeden Fall der Apostel Paulus gesehen. Schon in Galater 4, 21 hatte er gefragt: „Sagt mir, die ihr unter dem Gesetz (der Tora) sein wollt, hört ihr das Gesetz (die Tora) nicht?“ (vgl. auch Galater 5, 2-6). Und in Galater 6, 13 betont der Apostel, dass die so Angesprochenen selbst nicht das Gesetzt beachten. Es gibt also nicht nur ein „Abweichen zur Linken“ vom Wort Gottes, sondern auch ein „Abweichen zur Rechten“. Wenn die einen zur Linken abweichen und Gottes Wort einseitig verkündigen, gehört es nicht zur Bibeltreue, ins andere Extrem zu gehen. Wenn also die einen vor allem die Liebe und den netten Umgang miteinander betonen und andere zentrale Aspekte der bi-blischen Botschaft vernachlässigen, betonen anderen diese vernachlässigten Aspekte oft nicht weniger einseitig und missachten das zentrale Gebot der christlichen Liebe.

2. Die Motive derer, „die euch nötigen, beschnitten zu werden“ (vgl. Galater 6, 12), sind aus der Sicht des Paulus nicht geistlich, sondern fleischlich. Denn sie tun das, „damit sie sich eures Fleisches rühmen können“ (Galater 6, 13). Gemeint ist, dass sie das tun, weil sie meinen, dadurch „gute Werke“ zu vollbringen, die ihnen helfen sollen, das ewige Leben zu erlangen (vgl. auch Philipper 3, 3ff.). Gleichzeitig suchen sie damit nach der Überzeugung des Paulus das Ansehen bei gewissen Personen vonseiten der Juden. Es gibt somit einen anscheinend geistlichen Eifer, der aus dieser Perspektive sehr fleischlich ist und nichts nützt.

Worauf kommt es dann an? Was ist eine zuverlässige und tragfähige Grundlage für den Glauben? Wodurch kann der Mensch zur Heilsgewissheit gelangen? Paulus betont, dass er sich allein auf das Kreuz Jesu Christi verlassen will. Dieser Aspekt wird auch in Philipper 3, 3ff. betont, wobei Paulus schreibt, dass er auch viel Grund hätte, um sich „gute Werke“ zu verlassen, dass er jedoch um Christi willen das alles für „Dreck“ geachtet hat, „damit ich Christus gewinne und in ihm erfunden werde“ (vgl. Philipper 3, 7-9). Das Kreuz von Golgatha, an dem Jesus Christus, der Sohn Gottes, gestorben ist, ist somit die einzige Grundlage für das Heil der Menschen, für das ewige Leben und den Frieden mit Gott. Dort, wo Jesus die Sünden-schuld aller Menschen auf sich genommen und den „Kelch getrunken“ hat, indem er Gottes Gericht über die Sünde getragen hat (vgl. z. B. Kolosser 2, 14), wodurch Jesus das Alte Testament erfüllt hat. Jesus allein ist somit die Grundlage für unser Heil. Wer ihn aufnimmt, erlangt Vergebung der Sünden und wird Kind Gottes (vgl. Johannes 1, 12; 1. Johannes 1, 9).

Was geschieht, wenn jemand (auf diese Weise) Christ wird? Indem Jesus Christus durch den Heiligen Geist in sein Leben kommt, erlangt er nicht nur Vergebung der Sünden und wird Kind Gottes, sondern durch Jesus Christus wird er auch aus der Knechtschaft der Sünde befreit. Die Sünde hat keinen „Rechtsanspruch“ mehr auf sein Leben; diesen Anspruch hat nun vielmehr Jesus Christus (vgl. Römer 6, 12ff.). Auch „gute Werke“ mit egoistischer Motiven haben keinen Platz mehr in seinem Leben. Mit Christus sind wir auch dem „frommen“ Egoismus gegenüber gestorben – sollten es auf jeden Fall sein. Es geht nun darum, dass er in unserem Leben wich-tiger wird und wir „abnehmen“ (vgl. Johannes 3, 30).

Was prägt unseren Umgang mit den Mitgläubigen? Ist es die Liebe, die der biblischen Wahrheit verpflichtet ist und zur gegenseitigen Erbauung dienen soll? Als Verkündiger der biblischen Botschaft sollten wir uns immer wieder hinterfragen, mit welcher Motivation wir verkündigen. Steht im Zentrum das Evangelium von Jesus Christus? Oder steht im Zentrum eine „Verteidigung“ der Bibeltreue, die andere verunglimpft, nur damit wir am Schluss gut dastehen? Überprüfen wir doch unsere Motivation. Was nützt eine Verkündigung mit einer falschen Motivation, auch wenn noch so viele applaudieren? Sie erbaut den Leib Christi nicht, und selbst dann nicht, wenn einige sich in ihrem Gewissen gestärkt fühlen, weil sie bestätigt wurden, dass sie in ihrer Abwehrhaltung „richtig“ liegen. Auch die religiösen Führer zur Zeit Jesu lauerten ständig, um Jesus irgendwie als nicht „bibeltreu“ zu enthüllen.

Menschen, die mit Jesus leben, haben auch solche „from-men“ und doch ungeistlichen Eigenschaften abgelegt und sollen das nun auch im praktischen Leben zum Ausdruck bringen. Entscheidend ist die Neuschöpfung in Jesus Christus, wie Paulus in Galater 6, 15 betont. Diese Neuschöp-fung äußert sich vor allem dadurch, dass die göttliche Liebe als Frucht des Geistes (vgl. Galater 5, 22) nun im Leben der Gläubigen wirksam wird, wie Galater 5, 6 darlegt. Das Kreuz Jesu Christi als Zeichen der unverdienten Liebe Gottes zum Sünder (vgl. Römer 5, 8) soll somit auch unser Leben mehr und mehr prägen. Dazu gehört das tägliche „Sterben“ des eigenen Ichs und die echte geistliche Demut, wie sie auch Jesus Christus geprägt hat (vgl. Matthäus 11, 28-30).

Somit kommen wir zum nächsten Punkt: Jesus Christus soll den Maßstab für unser Leben als Christen vorgeben.

 

2. Dem Maßstab Jesu Christi folgen (Galater 6, 16)

Das Wort, das in Galater 6, 16 mit „Richtschnur“ übersetzt wird (Elberfelder-Bibel), heißt im Griechischen kanon. Das Wort wurde aus der hebräischen Sprache über-nommen und bezeichnet ursprünglich das Rohr, dann die Messlatte und wurde somit auch im Sinn von „Maßstab“ gebraucht. Im Neuen Testament erscheint das Wort nur noch in 2. Korinther 10, 13.15-16. Dabei geht es um die Frage, nach welchem Maßstab der Dienst des Paulus bewertet wird. In Korinth gab es offenbar Mitarbeiter, die ihre Arbeit anhand von „fremdem Maßstab“ maßen. Paulus hingegen ist es ein Anliegen, seine Arbeit nach dem zu messen, was Gott ihm anvertraut hat.

Es gibt also Aufgaben von Glaubensgeschwistern, in denen man neidlos anerkennen sollte, dass wir sie nicht mit unserem Maßstab messen dürfen. Vielleicht würden wir anders handeln, doch das ist kein Grund, den anderen zu verurteilen oder zu verunglimpfen. Er ist für seinen Dienst vor Gott verantwortlich, und ich bin für meinen Dienst vor Gott verantwortlich. Wenn das unter den Gläubigen beach-tet wird, kann viel unnötiger Streit verhindert werden.

In dem Sinn schreibt Paulus in Galater 6, 16: „Und so viele nach diesem Maßstab [als göttlichem Element; vgl. Römer 4, 12; Philipper 3, 16] wandeln werden, Friede und Barmherzig-keit über sie und über das Israel Gottes!“ Wer den Mit-christen als „neue Schöpfung“ betrachtet, der wird ihn gemäß 2. Korinther 5, 16f. nicht mehr „dem Fleisch nach“ beurteilen. Vielmehr werden sie als Glaubens-geschwister betrachtet, die durch Jesus Christus ein neues Leben empfangen haben und nun unterschiedliche Aufgaben in der Gemeinde Jesu wahrnehmen. Dadurch werden sie den Frieden und die Barmherzigkeit Gottes nicht nur selbst erleben, sondern diesen innerhalb der Gläubigen auch weitergeben können. So schreibt Paulus in Philipper 4, 9: „Was ihr auch gelernt und empfangen und gehört und an mir gesehen habt, das tut, und der Gott des Friedens wird mit euch sein.“

Eine exegetisch umstrittene Frage in Bezug auf Galater 6, 16 ist, was mit dem „Israel Gottes“ gemeint ist. Bezeichnet Paulus damit die Gemeinde von Gläubigen aus Juden und „Heiden“ und definiert somit den Begriff „Israel“ neu? Das ist eine oft vertretene These, was jedoch im Wider-spruch zu Römer 11 stehen würde. Die entscheidende Frage in Bezug auf die Auslegung des Textes ist, wie das „und“ verstanden wird. Wird es als „exegetisches und“ gedeutet im Sinn von „Friede und Barmherzigkeit über sie, das heißt über das Israel Gottes“? Mit „über sie“ spricht Paulus offensichtlich die ganze Gemeinde, bestehend aus Juden- und Heidenchristen, an. In dem Fall wäre diese identisch mit dem „Israel Gottes“. Eine andere – naheliegende – Möglichkeit ist, das „und“ an dieser Stelle (wie allgemein) als Kopula zu verstehen.

Demnach besagt der Satz Folgendes: „Friede und Barm-herzigkeit über sie“, wobei mit „über sie“ wohl vor allem die gläubigen „Heidenchristen“ in den Gemeinden von Galatien angesprochen werden, „und [auch] über das Israel Gottes“, womit die an Jesus gläubigen Juden angesprochen werden. Paulus sagt somit auch an dieser Stelle nicht, dass die Gemeinde Jesu Israel als erwähltes Volk Gottes ersetzt, aber er bringt zum Ausdruck, dass der verheißene Friede auch für die Juden schlussendlich nur durch den Glauben an Jesus Christus empfangen werden kann. In dem Sinn gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Nicht-juden. Somit findet weder die „Ersatztheologie“ (die christliche Gemeinde „ersetzt“ Israel) noch die starke Trennung, die Israel sozusagen ohne Glauben an Jesus Christus heilig spricht, eine Unterstützung im Neuen Tes-tament. Wichtig ist sicher, auch in dieser Hinsicht die biblische Mitte zu bewahren und weder zur Rechten noch zur Linken abzuweichen (vgl. Josua 1, 7-9). Gottes Verhei-ßungen werden auch für Israel schlussendlich nur durch Jesus Christus und durch den Glauben an ihn erfüllt (vgl. 2. Korinther 1, 18-20).

Wer an Jesus Christus glaubt, hat Gottes Friede und Barmherzigkeit erfahren und erfährt sie immer wieder neu. Gleicherweise ist es nun sein Auftrag, nach dem gleichen Maßstab vorzugehen, wie Gott das in Jesus Christus tut. Nach Lukas 6, 36 sagt, dass seine Jünger barmherzig sein sollen, „wie auch euer Vater barmherzig ist“, und nach Matthäus 11, 29 sollen wir von Jesus lernen mit der Begründung, dass er sanftmütig und von Herzen demütig ist. Mit an-deren Worten: Auch wir sollen sanftmütig und von Herzen demütig sein. Damit ist Rechthaberei keine geistlich-biblische Tugend.

Prägt eine solche Haltung unseren Umgang mit den Mitmenschen und mit den Mitgläubigen? Wenn wir den Frieden Gottes nicht im zwischenmenschlichen Bereich leben, dann geht uns dieser Friede verloren.

Und wie ist unsere Haltung Israel gegenüber? Ich bin überzeugt, dass Israel heute vor unseren Augen ein leben-diges Zeugnis dafür ist, wie Gott zu seinen Verheißungen steht. Gleichzeitig wird Israel nach der Bibel erst dann den wahren Frieden erleben, wenn es durch Jesus Christus diesen Frieden erlebt. Wenn das der Fall ist, wird Israel auch für die Nachbarvölker ein lebendiges Zeugnis sein. Als Gläubige, deren Grundlage die ganze Bibel ist, werden wir somit auch keine Politik in Israel unterstützen können, die diese biblischen Prinzipien missachtet. Es ist erstaun-lich, wie manche Gläubige in dieser Hinsicht recht einsei-tig denken und handeln. In dieser Hinsicht scheint der Zweck die Mittel zu heiligen. Wenn wir Israels Frieden wünschen, werden wir ihnen vor allem Jesus Christus wünschen.

Schlussendlich geht es darum, dass die Jünger und Jüngerinnen Jesu die Merkmale Jesu in ihrem Leben zum Ausdruck kommen lassen.

 

3. Die Merkmale Jesu tragen (Galater 6, 17-18)

In Galater 6, 17 schreibt Paulus: „In Zukunft mache mir keiner Mühe, denn ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leib.“ Dabei stellt sich die Frage, was mit den „Malzei-chen Jesu“ gemeint ist. Das griechische Wort stigma (στίγ-μα) bedeutet soviel wie „Malzeichen, Brandmarke (auf der Stirn oder den Händen der entflohenen Sklaven und auch der gefangenen Feinde); Narbe; Stich“ und ist von dem Verb stizo (στίζω) = „stechen (insbesondere durch Punkte und Schnitte Zeichen und Buchstaben in die Haut ein-schneiden); brandmarken, tätowieren“ abgeleitet. Da mit dem Wort u. a. die Narbe bezeichnet wird und Paulus von „Jesus“ (ohne Zusatz wie „Christus“) spricht (so wohl ur-sprünglich), womit Paulus den „irdischen“ Jesus bezei-chnet, ist damit offensichtlich eine Anspielung an die Kreuzes-Merkmale Jesu in seinen Händen und seiner Seite verbunden. Deshalb wurde der Text in der Kirchen-geschichte zum Teil so verstanden, dass Paulus an seinem Leib ebenfalls die gleichen Merkmale habe, allerdings ohne tatsächlich am Kreuz gehangen zu haben. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Paulus das zum Ausdruck bringen will. Vielmehr könnte es sich um eine Anspielung an seine Steinigung in Lystra (vgl. Apostelgeschichte 14, 19) sein.

Das Wort stigma bezeichnet aber auch u. a. einen „Stich“ eines Sklaven als Ausdruck des Besitzes. Der Ausdruck „ein Merkmal tragen“ bedeutet in diesem Zusammenhang, das Kennzeichen eines Sklaven und die Zugehörigkeit zu dem Besitzer an seinem Leib zu tragen. In diesem Kontext verweist Paulus offenbar auf seine Steinigung in Lystra und die daraus entstandenen Narben, die für ihn ein Merkmal der Zugehörigkeit zu Jesus Christus zum Aus-druck bringt.

Paulus ist ein „Knecht Christi Jesu“ (vgl. Römer 1, 1). Die Narben, die durch die Verfolgung auf Grund seiner Ver-kündigung des Evangeliums von Jesus entstanden sind, sind ein Zeugnis dafür. In Kolosser 1, 24 schreibt der Apostel: „Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch und erfülle in meinem Fleisch die Mängel der Bedrängnisse des Christus für seinen Leib, das ist die Gemeinde.“ Natür-lich weiß Paulus, dass das Erlösungswerk Jesu vollkom-men ist und das dem nichts hinzugefügt werden muss. Aber das Erlösungswerk kommt nur dann zum Ziel, dass Jesus Christus nun den Menschen verkündigt wird und dass diese zum Glauben an Jesus Christus kommen und dadurch errettet werden. Das ist die Aufgabe des Apostels Paulus, und diese Aufgabe ist mit vielen Leiden verbun-den, wodurch er sich als echten Apostel Jesu Christi aus-weist (vgl. z. B. 2. Korinther 11, 22-28).

Es geht Paulus aber nicht nur darum, dass sich Menschen zu Jesus Christus bekehren, sondern dass sie in Jesus Christus auch immer vollkommener in der Heiligung leben. So ergänzt er (nach Kolosser 1, 24) in Kolosser 1, 27-29:

„Ihnen wollte Gott kundtun, was der Reichtum der Herr-lichkeit dieses Geheimnisses unter den Nationen/Heiden sei, und das ist: Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit. Ihn verkündigen wir, indem wir jeden Menschen ermahnen und jeden Menschen in aller Weisheit lehren, um jeden Men-schen vollkommen in Christus darzustellen; wozu ich mich auch bemühe und kämpfend ringe gemäß seiner Wirksamkeit, die in mir wirkt in Kraft.“

Das bedeutet für Paulus jedoch auch vor allem, selbst ein Vorbild im geistlichen Leben zu sein. Dass der die „Nar-ben Jesu“ an seinem Leib trägt, bedeutet deshalb nicht nur, dass er äußerlich die Kennzeichen eines Knechtes/Skla-ven Jesu Christi trägt, sondern vor allem auch, dass Jesus Christus sein Leben durch und durch prägt und dass er dadurch den Gläubigen ein Vorbild sein kann (vgl. z. B. 1. Korinther 11, 1; Philipper 3, 17; 1. Thess 1, 6f.; 2. Thess 3, 7.9; vgl. auch Epheser 5, 1; 1. Tim 4, 12; Titus 2, 7). Damit ist diese voll-kommende Prägung durch Jesus Christus auch das Ziel für alle Gläubigen. Jesus Christus, der der „Charakter/ Prä-ger“ des Wesens Gottes ist (vgl. Hebräer 1, 3), soll sozusagen Charakter der Gläubigen werden, indem sie sich/ihren Charakter mehr und mehr durch ihn prägen lassen.

Tragen auch wir in diesem Sinn die Merkmale Jesu an unserem Leib? Leib und Leben gehören nach der Bibel eng zusammen. Es geht also nicht nur darum, dass wir zwar innerlich „geistliche“ Menschen sind, äußerlich aber wenig davon sichtbar wird. Die Erneuerung durch den Glauben an Jesus Christus kommt von ihnen und prägt zuerst das Denken (vgl. Römer 12, 2), dann aber auch den ganzen Menschen in seinem Handeln. Unser ganzes Leben soll ein Hinweis auf Jesus Christus sein nach dem Motto von Galater 2, 20: „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir …“