Rolf Scheffbuch

Mir geschehe! Auch mir!

20.12.1998

 

Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben. Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, von der man sagt, dass sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.

Lukas 1, 26-38


Liebe Gemeinde!

Zugegeben: Manche Christen tun sich schwer mit dem Bekenntnis: "Geboren von der Jungfrau Maria". Sie denken an Verwandte und Nachbarn. Sie nehmen an, die würden für so etwas nur ein überhebliches Lächeln übrig haben. Muss man denn so etwas dem modernen Menschen zumuten: Engel, Jungfrauengeburt, "die Kraft des Höchsten wird dich überschatten"?

Haben Sie Verständnis für Mitchristen, die so fragen, aus missionarischem Anliegen so fragen? Ich habe es.

Aber darum hat es mich getroffen, als ich bei einem der größten zeitgenössischen Schriftsteller (John Updike) auf einen Gedanken stieß. Dieser vielgelesene Erzähler rügt die Kirchen, die der menschlichen Vernunft nichts mehr zumuten wollen, zuzumuten wagen: "Warum soll man denn überhaupt in Gottesdienste gehen, wenn die Christen nicht mehr an die Göttlichkeit Jesu Christi glauben?" Und dann kommt der Satz: "Ohne übernatürliche Rettungsaktion ist doch unser irdischer Zustand hoffnungslos!"

Von der "übernatürlichen Rettungsaktion" ohnegleichen erzählt dieser Bericht. Mindestens davon, wie sie überirdisch ihren Anfang genommen hat. Dieser Bericht erinnert uns daran: "Leute, euer Zustand muss nicht hoffnungslos bleiben! Die übernatürliche Rettungsaktion ist im Gang. Sie ist für euch bestimmt!" Für uns!
Das Übernatürliche müssen wir nicht zu erklären versuchen. Aber wir brauchen wache Sinne. Sonst huschen wir oberflächlich über die Spuren hinweg, die in diesem Bericht zu finden sind.

Die Bibel ist ja durchzogen von Grundgedanken. Sie sind wie Leitstrahlen. Und aus dem Bericht des Lukas wird deutlich, dass sie sich immer stärker dort bündeln, wo es um Gottes übernatürliche Rettungsaktion geht.

Lassen Sie mich einige dieser Leitstrahlen aufzeigen:

Biblische Grundlinien bündeln sich

Leitstrahl Nr. 1: "Gott erhebt die Niedrigen", den "Demütigen gibt er Gnade".
Das ist der Strahl, der hier Maria anleuchtet. Jetzt steht des "Herrn Magd", das unbekannte Mädchen aus dem Volk, im hellen Licht dieses erleuchtenden Gottesstrahles. Einst standen in diesem Licht der greise Abraham und der verachtete Mose, der geknechtete Joseph und der eingekerkerte Jeremia, die kinderlose Hanna und die aus kleinsten Verhältnissen kommende Esther. Wenn wir die Weihnachtserzählung entlanggehen, dann werden wir erkennen, dass in diesem Strahl der alte Priester Zacharias und seine kinderlose Frau Elisabeth stehen, die Hirten auf dem Feld von Bethlehem, der greise Simeon und die einsam lebende Pfarrwitwe Hanna. Aber über sie alle hinaus zielt der erhellende Leitstrahl auf den "Allerverachtetsten", auf den "von Herzen Demütigen", auf den von den Fachleuten "verworfenen Stein", den aber Gott zum Eckstein bestimmt hat. Das ist eine gute Spur, eine verlässliche Leitlinie. Heute steht für uns im Focus dieses Lichtes die kleine Maria.

Leitstrahl Nr. 2: Alles wirklich Große geht von Gott aus!
Was vom Fleisch, also vom Menschlichen, geboren ist, was vom Irdischen stammt, das ist vergänglich. Groß aber und unvergänglich, bleibend und hilfreich ist allein das, was aus Gottes Geist geboren ist und durch Gott gewirkt wird. Der Turm von Babel war einst gigantisch konzipiert, er verfiel. Dass einmal dem Abraham eine Nachkommenschaft geschenkt sein könnte, das erschien zu seinen Lebzeiten irreal, eine biologische Unmöglichkeit. Aber von Gott gewirkt lebt sie heute noch nach Jahrtausenden, nicht auszulöschen durch irrationalen Hass quer durch die Jahrtausende. Werk aus Menschen geht unter. Was jedoch Gott gewirkt hat, das ist nicht kaputt zu kriegen. Menschen mögen fragen: "Wie soll denn das zugehen? Wie ist denn so etwas biologisch und auch technisch möglich?" Aber was soll's? "Bei Gott ist kein Ding unmöglich!" Eine nachdenkenswerte Spur, eine eindeutige Leitlinie. Weil sie gilt, konnte die Segenslinie Israels überhaupt dort bei Sara beginnen. Weil sie gilt, können überhaupt Menschen wie wir selig werden. Aber heute steht im Focus dieser Leitlinie die Braut des Josef, die Maria, die "reine Magd", die nicht wie die losen Leute ihrer Zeit im Geheimen Verheiratetsein gespielt hat.

Leitstrahl Nr. 3: Fürchte dich nicht! Wer es wirklich mit Gott zu tun hat, bei dem hört das Labern über Gott auf, auch das vertrauliche Plaudern mit Gott. Vielmehr gibt es da das Erschrecken: "Weh mir, ich vergehe!" Wer kann denn vor Gott bestehen? Da gibt es mehr als nur Ehr-"Furcht" vor Gott. Vielmehr tut sich ein Abgrund auf zwischen dem heiligen, ewigen, großen Gott und mir, dem kleinen, vergänglichen, nebensächlichen Menschlein. Nur Gott kann diesen Abgrund überbrücken mit seinem vollmächtigen "Fürchte dich nicht!". Dieser Leitstrahl ist dem Mose am Gottesberg Horeb, dort am brennenden Busch, aufgestrahlt. Der Seher Johannes, der fromme Zeuge Jesu, hat das Licht dieses Strahles auf Patmos erlebt, als er wie ein Toter zu Füßen des erhöhten Jesus zusammengesackt war. Wenn Gott "Fürchte dich nicht!" sagt, ist es etwas anderes, als wenn wir uns selbst einreden "Nur keine Bange!". Das zu wissen, ist wichtig. Aber heute steht im Brennpunkt des Strahles die erschrockene Maria. Sie war erschrocken darüber, dass sie so ungewöhnlich angeredet worden war: "Du Begnadete, der Herr ist mit dir!"

Leitstrahl Nr. 4: Der "Sohn"!
Gott ist aus auf intimste Verbundenheit. Israel sollte nach Gottes Willen der "Sohn" sein, den Gott wie ein Vater trägt. Aber Israel hat sich immer wieder losgestrampelt. Das ist menschlich, auch bei uns. Da hat Gott alle seine Heilungsabsichten hineingelegt in den angekündigten "Sohn". Er soll andere Menschen als seine Brüder hineinziehen in die Gottesfamilie. In den vertrauten Umgang mit Gott, dem Vater. Einst war dem David angekündigt: "Einer deiner Nachkommen soll mein Sohn sein". Darum nur war es nach David immer wieder von Salomo und dessen Nachkommen erfolglos erwartet worden, dass sie in dieser Sonderstellung leben können. Aber jetzt leuchtet der Lichtstrahl auf über dem, der in Marias Leib heranwachsen soll: "Das Heilige, das geboren wird, wird Gottes Sohn genannt werden". Er soll nicht bloß Gottes Sohn heißen, sondern auch sein! Dieser Gottessohn Jesus will es möglich machen, dass einst in der Ewigkeit unter Menschen wahr wird: "Ich werde ihr Gott sein, und sie werden meine Söhne, meine Töchter, sein." Eine wichtige Spur, eine unüberbietbare Leitlinie auch für uns. Heute jedoch steht für uns im Focus dieses Strahls der Mariensohn, dessen ganze Würde es war, Gottes Sohn zu sein.

Das sind ein paar der Leitstrahlen, die aus unserem Bericht erkennbar werden. Die Bibel ist voll von geradlinigen Tendenzen, die hinstreben auf Jesus. Sie sind voll Dynamik. Gott ist darauf aus, seine übernatürliche Rettungsaktion in Kraft zu setzen. Wir müssen uns wieder angewöhnen, auch in Glaubenssachen dem Denken etwas zuzumuten. Gottes Wesen ist potenzierte Weisheit. Wir dürfen und sollen mehr als nur ein kleines Stückchen davon auch erkennen. Aber es geht noch um viel mehr als um ein Stückchen der Wirklichkeit Gottes!

Eine ganz neue Schau der Dinge

Wenn Gottes Ruf uns trifft, will er für eine neue Schau sorgen. Für eine ganz neue Schau der Dinge. Für eine neue Sicht der Welt. Für einen neuen Zusammenhang der Dinge.

"Siehe!", so war Maria durch den Gottesboten aufgerufen worden. Mit demselben vertrauten "Siehe!", das wir in der Bibel so oft antreffen. Denn das ist eben Gottes bezeichnender Ruf. "Hebe deine Augen auf und siehe!" Das gilt auch für uns; denn wir könnten ja versucht sein, heute morgen unseren Blick fast nur auf die fromme Maria zu richten, auf des Herrn treue Magd. Ebenso wie die Christen in der katholischen Kirche fasziniert sind von der Frau, die "gebenedeit ist unter den Weibern". Wir müssen uns die Lage der Maria nüchtern vorstellen. Sie hätte ja noch viel mehr Recht gehabt zum Zweifel als jener Priester Zacharias, von dem die Bibel eine Seite zuvor berichtet. Der glaubte dem Engel nicht und verstummte. Maria hätte noch ganz anders als der alte, kinderlose Gottesmann ein Recht gehabt, zu protestieren: "Stop! Nur das nicht! Was sollen denn die Leute denken, wenn ich ein Kind bekomme. Was wird das für ein Geschwätz geben! Ich werde blamiert sein vor aller Welt! Und was soll erst der liebe Josef von mir denken. Der muss doch denken, dass ich ihm treulos geworden bin. Also: Wenn ich wirklich Gnade gefunden habe vor Gott, dann soll er mich verschonen vor dem, was du da ankündigst. Bitte nicht!" Bevor jedoch noch solche Gedanken bei Maria aufkeimen und sich in Marias Herz und Seele einnisten konnten, ließ Gott ausrichten - für sie und für uns: "Siehe!" Schau doch auf die großen Zusammenhänge! Sieh nicht auf das, was dein Herz an Schrecken an die Wand malen will. Sieh auf das, was längst im Herzen Gottes bedacht, geplant, verantwortlich vorbereitet ist!

Mit dem Kind, das da geboren werden soll, wird der zur Welt kommen, den ihr in eurer Welt nötiger habt als alle genialen Staatsmänner. Wisst ihr, der soll jetzt zu euch kommen, der Sohn soll geboren werden, der da heißt: "Wunder-Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst"!

Darum die Hinweise des Gottesboten Gabriel an Maria:

a) "Er wird Sohn des Höchsten sein!" Jesus hat einmal im vertrauten Gespräch mit Gott, seinem Vater, gesagt: "Vater, ehe die Welt gegründet war, war ich eingehüllt in deine Herrlichkeit. Aber jetzt hast du mich, Vater, in diese gott- verlassene Welt gesandt. Ich soll Menschen in deine Herrlichkeit hinein holen und zurückretten. Ich will, dass die bei mir seien, die du mir gegeben hast!" - Freunde, diesen Sohn des Höchsten, der damals der Maria angekündigt wurde, den gibt's!

b) Diesem Jesus will Gott "den Thron Davids" geben. Das hat Gott auch getan, nämlich damals, als er Jesus nach seinem Leiden erhöhte zur Rechten des göttlichen Thronsitzes. Den gibt's, der nun dort für mich eintritt, der Fürsprecher für Sie und für mich sein möchte. Auch gerade dann, wenn die Sünde uns wieder überwältigt hat.

c) "Seines Reiches wird kein Ende sein!" Manchmal mag es ja für uns so aussehen, als ob die Chancen für Gottes Reich mies stünden. Ja, Gottes Herrschaft ist umkämpft, weil Jesus dem "Fürsten dieser Welt" das Terrain abjagen muss - bis hinein in unsere Häuser und in unser Korntal. Und weil der Arge, der Durcheinanderbringer, der Starke sich nichts einfach wegnehmen lässt. Aber mit Jesus ist der "Stärkere" gekommen, der sich das Reich Gottes nicht nehmen lässt und nicht nehmen lassen muss, bis die Feinde Gottes ihm zum Schemel der Füße gelegt werden. Welch eine Schau, was für ein Ausblick!

Die umfassende Schau hat damals der Maria geholfen, dass sie ihre eigentlich so berechtigten Einwände gar nicht erst aufkommen lassen musste. Sie hat vielmehr gesagt: "Mir geschehe, wie du gesagt hast!" Wenn nur etwas für die Sache Gottes herauskommt. Wenn auf diese Weise nur etwas wirklich Rettendes für unsere Welt geschieht! Wenn nur endlich die übernatürliche Rettungsaktion beginnt!

Der Helfer ist schon da! Auch uns möchte er in seine Herrlichkeit hineinretten. So gerne möchte er auch für uns eintreten dürfen vor dem Vater. Er möchte mit seiner Siegerkraft genau dort hineinwirken, wo wir von dem Unguten überwunden werden, das wir doch so gerne abgeschüttelt hätten. Aber aus eigener Kraft sollen wir doch gar nicht damit fertig werden. Wir sind eingeladen, dies nachzusprechen: "Mir geschehe, wie du gesagt hast!"

Amen.