Heiße Eisen 3

 

Thomas Zimmermanns

 

 

Vorentrückung

 

Was sagt die Bibel dazu?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

Inhaltsverzeichnis:

 

Einleitung

 

1.      Die Grundaussagen der Vorentrückungslehre und ihre biblische Bewertung

 

a)      Die strikte Unterscheidung zwischen der Gemeinde und Israel

b)      Das Wesen der 70. Jahrwoche nach Dan 9

c)      Die Unterscheidung zwischen dem ersten und zweiten Kommen Jesu

d)      Die Bibel lehre die Naherwartung der Wiederkunft Jesu

e)      Die Ankündigung von Friede und Sicherheit

f)        Die Beziehung der Gemeinde zur Obrigkeit

g)      Die Botschaft an Laodicea

h)      Die Zeit der Nationen

i)        Der wartende Überrest bei der Wiederkunft Jesu

j)        Die typologische Übereinstimmung

 

2.      Für die Vorentrückungslehre geltend gemachte Bibelstellen und ihre biblische Bewertung

 

a)      2. Thess 2,6-8

b)      Offb 3,10

c)      Offb 4,10-11

d)      Offb 11,3

e)      Offb 14,1-5

 

3.      Bibelstellen, die die Vorentrückungslehre widerlegen

 

a)      Lk 21,34-36

b)      1. Kor 15,51

a)c)      1. Thess 4,16-17

d)      1. Thess 5,4

b)e)      2. Thess 2,3-4

f)        1. Thess 6,13-14

c)g)      Dan 7,21

 

4.      Wann wird die Gemeinde tatsächlich entrückt?

 

a)      Die Lehre von der Entrückung in der Mitte der Großen Trübsal

b)      Die Lehre von der Entrückung in der Mitte der letzten dreinhalb Jahre

c)      Die Lehre von der Entrückung am Ende der Großen Trübsal

 

5.      Zusammenfassung und Ergebnis

 


 

Einleitung

 

In den Bänden der aktuell erscheinenden Reihe ”Heiße Eisen” setzt sich der Autor jeweils mit einer umstrittenen theologischen Frage auseinander.

 

Gott schenkt den Gläubigen in seinem Wort zahllose großartige Verheißungen, vor allem das Vorrecht, schon jetzt in der Gemeinschaft mit ihm leben zu dürfen, die dann in der Ewigkeit ihre volle Erfüllung finden wird. Aber die Bibel spricht auch von einer Zeit, in der Gott Strafgerichte über die Welt kommen lässt und in der der Antichrist regiert, der die Gläubigen weltweit verfolgen wird, bevor der Herr Jesus wiederkommt.

 

Zahlreiche ernsthafte Christen haben sich mit dieser Konsequenz nicht abfinden wollen und eine Lehre geschaffen, die diesen ”Stein des Anstoßes” umgeht. Die ist die sog. ”Vorentrückungslehre”, wonach die Gemeinde Jesu nicht durch die Große Trübsal mit der Herrschaft des Antichristen hindurch müsse, sondern vorher von Gott zu Jesus Christus in den Himmel entrückt werde.

 

Auch wenn mir bewusst ist, dass all unsere Erkenntnis nur Stückwerk ist (1. Kor 13,9), so habe ich mich doch veranlasst gesehen, anhand einer eingehenden Untersuchung der für und gegen diese Lehre sprechenden Bibelstellen aufzuzeigen, dass es sich hierbei um eine falsche Sicherheit handelt, die der biblischen Wahrheit nicht gerecht wird. Auf der anderen Seite darf die berechtigte und notwendige Auseinandersetzung um diese Fragen kein Grund sein, dass sich Geschwister im Herrn zerstreiten.

 

Um so wichtiger ist die Mahnung des Apostels Johannes in Offb 2,7: ”Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der im Paradies Gottes ist”.

 

Bibelzitate sind, soweit nichts anderes angegeben, der Luther-Übersetzung (LÜ) 1984 in der Schreibweise der neuen Rechtschreibung entnommen.

 

Köln, im Frühjahr 2008

 

 


 

1.      Die Grundaussagen der Vorentrückungslehre und ihre biblische Bewertung

 

Einig sind sich alle Christen darin, dass die zu einem bestimmten Zeitpunkt lebenden Gläubigen von Gott von der Erde hinweggenommen und „entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen“ (1. Thess 4,17). Ebenso besteht Einigkeit darüber, dass nicht alle Menschen entrückt werden, sondern nur wahre Christen, d.h. Wiedergeborene.

 

Umstritten ist jedoch, wann, d.h. zu welchem heilsgeschichtlichem Zeitpunkt, diese Entrückung stattfindet. Durch John Nelson Darby (1802-1882) wurde die Ansicht weit verbreitet, dass sie vor der sogenannten „Großen Trübsal geschehe. Aus diesem Grund wird sie als „Vorentrückungslehre“ bezeichnet. Die Große Trübsal ist nach Ansicht der Prämillenniaristen[1] ein Zeitabschnitt, der sieben Jahre vor der Wiederkunft Jesu beginne und in seiner zweiten Hälfte seinen Höhepunkt erreichen werde. Während dieser Zeit übe der Antichrist die Weltherrschaft aus und Gott werde eine Vielzahl von Strafgerichten wie Kriege, Seuchen und Natur- und Umweltkatastrophen über die Erde verhängen. Die Entrückung der wahren Gläubigen erfolge heimlich und von den übrigen Menschen unbemerkt, während die sieben Jahre später erfolgende Wiederkunft Jesu für alle sichtbar sei. Während der letzten sieben Jahre setze sich die Heilsgeschichte Gottes mit Israel vom Alten Testament her fort und das Volk Israel bzw. der Überrest, der die Strafgerichte und die antichristliche Verfolgung überlebt, gelange zum Glauben an Jesus Christus als den Messias. Auch Nichtjuden kämen während dieser Zeit zum Glauben, doch müssten sie damit rechnen, vom Antichristen verfolgt und getötet zu werden. Die praktische Hauptkonsequenz dieser Lehre ist somit, dass die Gemeinde Jesu die antichristliche Schreckenszeit dieser letzten sieben Jahre nicht mehr mitzuerleben brauche. Dies wird besonders heutzutage von vielen als Trost in der immer mehr voranschreitenden Endzeit angesehen. Es muss jedoch anhand der Bibel sorgfältig geprüft werden, ob diese Lehre tatsächlich biblisch begründet ist; ansonsten würde sie sich als falsche Sicherheit erweisen. Diese Lehre wird mit zahlreichen Bibelstellen sowie mit einer Anzahl von Argumenten, die sich auf Gottes heilsgeschichtliches Handeln mit der Gemeinde Jesu und mit Israel beziehen, begründet. Als erstes sollen die heilsgeschichtlichen Argumente der Lehre von der Vorentrückung dargestellt und anhand der Bibel kritisch bewertet werden.

 

a)      Die strikte Unterscheidung zwischen der Gemeinde und Israel

 

Eines der Hauptargumente für diese Lehre ist die auf die Haushaltungslehre des Dispensationalismus gestützte strikte Unterscheidung zwischen der christlichen Gemeinde und Israel. Ihr zufolge erstrecke sich Gottes Heilsgeschichte vom Bund mit Abraham bis zum Tod Jesu nur auf das Volk Israel, vom Tod Jesu bis zu der in Dan 9,27 genannten 70. Jahrwoche nur auf die Gemeinde und in der 70. Jahrwoche, die als die letzten sieben Jahre vor der Wiederkunft Jesu verstanden wird, wieder nur auf Israel. Eine zeitliche Überschneidung zwischen Gottes Heilshandeln an der Gemeinde und am Volk Israel sei demzufolge ausgeschlossen. Hieraus wird weiter gefolgert, dass die Gemeinde nicht mehr auf der Erde sein könne und bereits entrückt sein müsse, wenn Gott sein Heilshandeln mit Israel in der 70. Jahrwoche wiederaufnehme.[2]

 

Bewertung: Als erstes muss festgestellt werden, dass einige theologische Ausgangspunkte der Vorentrückungslehre zutreffend sind. Dies betrifft insbesondere die Überzeugung, dass in den letzten sieben Jahren vor der Wiederkunft Jesu der Antichrist, eine völlig vom Satan inspirierte und beherrschte Person, seine totalitäre Weltherrschaft ausüben wird und dass die Bibel eine tausendjährige Herrschaft Jesu auf Erden nach seiner Wiederkunft beschreibt. Dies entspricht dem Standpunkt des Prämillennialismus.

 

Zwar wird dieser Standpunkt von verschiedenen Richtungen bezweifelt.[3] So wird etwa behauptet, diese tausendjährige Herrschaft Jesu liege vor seiner Wiederkunft („Postmillennialismus“) oder es gäbe gar kein sichtbares Millennium und die Aussagen der Bibel von einem Millennium seien geistlich zu verstehen („Amillennialismus“). Des Weiteren wird behauptet, die Große Trübsal und die Herrschaft des Antichristen lägen bereits in der Vergangenheit und der Antichrist sei ein diktatorischer Herrscher der Vergangenheit[4] oder eine christenfeindliche Ideologie wie z.B. der Kommunismus oder der Nationalsozialismus.

 

Ein solches Verständnis des Millenniums, der Großen Trübsal und des Antichristen dürfte jedoch nicht aufrecht zu erhalten sein:

 

Der Antichrist und seine Weltherrschaft, die mit einer schweren Verfolgung der Gemeinde Jesu und später auch der Juden verbunden ist (= die sogenannte Große Trübsal), wird an mehreren Stellen der Bibel als unmittelbar vor der Wiederkunft Jesu liegend beschrieben. Vor allem sagt die Bibel, dass der Antichrist und seine Macht durch den wiederkommenden Christus vernichtet wird (vgl. v.a. 2. Thess 2,8; Offb 19,11-21; aber auch Dan 2,34-35.44-45, 7,26-27) und dass der Antichrist selbst bei der Wiederkunft Jesu in den Feuersee geworfen wird (Offb 19,21). Aus diesen Textstellen ergibt sich meiner Meinung nach eindeutig, dass die Herrschaft des Antichristen der Wiederkunft Jesu unmittelbar vorangeht und nicht auf einen früheren Zeitpunkt bezogen werden kann: „Der völlige Sieg des Guten kann durch das Kommen des Herrn erst errungen werden, wenn sich das im Menschenherzen verborgene Böse in der Erscheinung des großen Gegners von Gottes Reich in seiner kurzen Herrschaft ganz geoffenbart hat, so daß der höchste Sieg des Guten zugleich die Endniederlage des Bösen im Augenblick seines Höchststandes sein wird...“.[5] Ebenso spricht die Bibel in Offb 20,1-6 meiner Meinung nach eindeutig von einer tausendjährigen Christusherrschaft auf der Erde, die sich zeitlich an die Wiederkunft Jesu anschließt.

 

Die Argumente jedoch, mit denen die Entrückung der Gemeinde vor der Großen Trübsal begründet wird, erweisen sich bei näherer Prüfung als nicht überzeugend, was im Einzelnen noch näher dargelegt werden soll. Dies trifft auch auf das hier genannte Argument zu: Sicherlich ist Gottes Heilshandeln mit dem Volk Israel und den Heiden in verschiedene zeitliche und heilsgeschichtliche Abschnitte gegliedert. So heißt es etwa in Röm 11,1-12.25-26, dass Gott seinen Gnadenbund zunächst nur mit dem Volk Israel schloss, dass die Heiden erst infolge Israels Ungehorsam in das Erlösungshandeln Gottes einbezogen wurden und dass sich das Volk Israel bei der Wiederkunft Jesu zu ihm als seinem Messias bekehren wird (vgl. z.B. Sach 12,10; Offb 1,7). Hieraus ergibt sich zugleich, dass diese Bekehrung nicht vor der Wiederkunft Jesu und auch nicht während der Großen Trübsal erfolgen wird, sondern erst nach bzw. bei seiner Wiederkunft. Vorher wird es nur ein kleiner Teil des Volkes Israel sein, der Jesus als den Messias annimmt. Eine strikte zeitliche und dogmatische Trennung dieser heilsgeschichtlichen Linien lässt sich der Bibel ohnehin nicht entnehmen. So dehnte Jesus seinen Erlösungswillen schon während seines Wirkens in Israel auf die Heiden aus, was z.B. in der Erhörung der Bitte der syro-phönizischen Frau (Mt 15,21-28) angedeutet wird.[6] Umgekehrt wirbt Gott auch nach dem Tod Jesu beständig um die Juden (Röm 3,1-4; 9,1-5) und möchte, dass auch sie in Jesus Christus Erlösung finden. Schließlich hat Gott im Neuen Bund seine Gemeinde aus Juden und Heiden geschaffen und Paulus sagt in Eph 2,14, dass Jesus Christus durch sein Sterben die beiden getrennten Teile (Juden und Heiden) innerhalb der Gemeinde zusammengefügt und den Zaun der Feindschaft zwischen beiden beseitigt hat.

 

b)      Das Wesen der 70. Jahrwoche nach Dan 9

 

In Dan 9,24-27 heißt es: „Siebzig Wochen sind verhängt über dein Volk und über deine heilige Stadt; dann wird dem Frevel ein Ende gemacht und die Sünde abgetan und die Schuld gesühnt, und es wird ewige Gerechtigkeit gebracht und Gesicht und Weissagung erfüllt und das Allerheiligste gesalbt werden. So wisse nun und gib acht: Von der Zeit an, als das Wort erging, Jerusalem werde wieder aufgebaut werden, bis ein Gesalbter, ein Fürst, kommt, sind es sieben Wochen; und zweiundsechzig Wochen lang wird es wieder aufgebaut sein mit Plätzen und Gräben[7], wiewohl in kummervoller Zeit. Und nach den zweiundsechzig Wochen wird ein Gesalbter ausgerottet werden und nicht mehr sein. Und das Volk eines Fürsten wird kommen und die Stadt und das Heiligtum zerstören, aber dann kommt das Ende durch eine Flut, und bis zum Ende wird es Krieg geben und Verwüstung, die längst beschlossen ist. Er wird aber vielen den Bund schwer machen eine Woche lang. Und in der Mitte der Woche wird er Schlachtopfer und Speisopfer abschaffen. Und im Heiligtum wird stehen ein Gräuelbild, das Verwüstung anrichtet, bis das Verderben, das beschlossen ist, sich über die Verwüstung ergießen wird“.

 

Es wird von den Anhängern der Vorentrückung vorausgesetzt, dass die in Vers 27 genannte 70. Jahrwoche sieben Jahre bedeuten, die noch in der Zukunft liegen und in denen der Antichrist seine Weltherrschaft ausübt und die Juden verfolgen werde. Diese sieben Jahre seien gekennzeichnet durch Zorn, Gericht, Drangsal und Vernichtung, die Gott über die Erde kommen lassen werde. Es sei ausgeschlossen, dass die Gemeinde Jesu in diese Zeit des Zornes Gottes hinein müsse, da Jesus für die Gemeinde den Zorn Gottes getragen habe und die Bibel ausdrücklich sage, dass die Gläubigen nicht in das Gericht kommen (Joh 5,24) und nicht zum Zorn Gottes bestimmt seien (1. Thess 5,9).

 

Als weiteres Argument in diesem Zusammenhang wird vorgebracht, dass die Gemeinde in den ersten 69 Jahrwochen nicht vorkomme, sodass sie auch in der 70. Jahrwoche nicht vorkommen könne. Sämtliche 70 Jahrwochen beträfen ausschließlich Gottes Heilsplan mit Israel.[8] Das Ziel der 70. Jahrwoche bestehe ausschließlich darin, das Volk Israel für die Wiederkunft Jesu zuzurüsten und vorzubereiten. Die Gemeinde habe einen solchen Dienst nicht nötig, da sie von ihrer Wesensart heilig und makellos sei (Eph 5,27).

 

Bewertung: Auch hier ist einer der Ausgangspunkte, wonach die in Dan 9 beschriebenen Jahrwochen jeweils sieben Jahre bedeuten, zutreffend, sodass es bei den 70 Jahrwochen um insgesamt 490 Jahre handelt. Zutreffend ist ebenfalls, dass die 70. Jahrwoche noch nicht erfüllt ist, sondern noch in der Zukunft liegt und dass es sich dabei um die sieben Jahre handelt, die der Wiederkunft Jesu vorangehen und dass in dieser Zeit der Antichrist seine Weltherrschaft ausübt. Dies ergibt sich u.a. daraus, dass die 70. Jahrwoche die letzte Jahrwoche vor der Wiederkunft Jesu ist. Dies wiederum ergibt sich daraus, dass es in Dan 9,24 heißt, dass nach den 70 Jahrwochen dem Frevel ein Ende gemacht wird. Dem Frevel des Antichristen wird aber (erst) durch die Wiederkunft Jesu ein Ende gemacht. Hätte sich die 70. Jahrwoche unmittelbar an die übrigen 69 Jahrwochen angeschlossen, so hätte dies im Übrigen bedeutet, dass Jesus sieben Jahre nach seiner Kreuzigung wiedergekommen wäre.[9] Ebenso dürfte zutreffen, dass diese letzten sieben Jahre eine Zeit des Zornes und des Gerichtes Gottes über die Welt sein werden (vgl. z.B. Offb 6,16). Aber daraus kann nicht der zwingende Schluss gezogen werden, dass die Gemeinde diese Zeit nicht mitzuerleben bräuchte. Bereits im Alten Testament mussten auch die Gläubigen und Treuen des Volkes Israel Zeiten des Gerichtes Gottes über ihr Volk miterleben und -erleiden, wie z.B. die Eroberung und Verwüstung ihres Landes und die Verschleppung in die Babylonische Gefangenschaft. Man denke etwa an Daniel, Hesekiel und Jeremia. Und im Neuen Testament sagt Petrus in 1. Petr 4,17 sogar: “Denn die Zeit ist da, dass das Gericht anfängt an dem Hause Gottes. Wenn aber zuerst an uns, was wird es für ein Ende nehmen mit denen, die dem Evangelium Gottes nicht glauben?“. Wenn es demgegenüber etwa in Joh 5,24 und in 1. Thess 5,9 heißt, dass die Gläubigen nicht in das Gericht kommen bzw. nicht für den Zorn Gottes bestimmt sind, so bezieht sich dies dem Zusammenhang dieser Bibelstellen nach eindeutig nur auf das Weltgericht und nicht auf Strafgerichte, die Gott in dieser Welt vollstreckt.

 

Auch das Argument, dass die Gemeinde in den ersten 69 Jahrwochen Daniels nicht vorkomme und deshalb auch in der letzten Jahrwoche nicht vorkommen könne, ist keineswegs stichhaltig. Daniels Prophetie bezog sich letztlich zwar ausschließlich auf Israel, was auch der Grund dafür ist, dass es sich bei den Weltreichen, auf die sich seine Prophetie erstreckt (v.a. Dan 2 und Dan 7 sowie Dan 8) nur um solche handelt, die in Bezug zu Israel standen bzw. Israel besetzt hielten, nämlich das babylonische, das medo-persische, das griechische und das römische Reich. Aber bereits der davon umfasste Zeitraum erstreckt sich, soweit es das römische Reich betraf, auf den Zwischenraum zwischen der 69. und der 70. Jahrwoche und damit (auch) auf die Zeit der Gemeinde.[10] Denn das römische Reich bestand ja in seinem westlichen Teil bis 476 n. Chr. und damit noch lange in der Zeit der Gemeinde fort. In seinem östlichen Teil bestand es sogar bis 1453. Somit lässt sich auch aus der Wiedererwähnung Israels in der 70. Jahrwoche nicht herleiten, dass sich die Gemeinde dann nicht mehr auf der Erde befinden wird, sondern nur, dass Gott sein heilsgeschichtliches Handeln mit Israel dann wieder aufgenommen hat.

 

c)      Die Unterscheidung zwischen dem ersten und zweiten Kommen Jesu

 

Die Anhänger der Vorentrückung sind der Ansicht, dass Jesus zweimal wiederkäme und dass das Kommen Jesu zur Entrückung seiner Gemeinde und die Wiederkunft Jesu für die Welt zeitlich und heilsgeschichtlich streng voneinander zu trennen seien. Dies ergebe sich bereits aus dem Bibeltext: Während der im griechischen Urtext in den entsprechenden Textstellen enthaltene Begriff „parusia“ (Ankunft) das erste Kommen Jesu zur Entrückung der Gemeinde bezeichne, sei mit „epiphaneia“ (Erscheinung) und „apokalypsis“ (Enthüllung; Offenbarung) die Wiederkunft Jesu für die gesamte Welt gemeint.[11]

 

Bewertung: Es muss festgestellt werden, dass diese Auslegung der genannten biblischen Begriffe weder eine theologische noch eine sprachliche Stütze findet. Man wird stattdessen zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass alle drei Begriffe ein und denselben Vorgang bezeichnen, nämlich die (einmalige) Wiederkunft Jesu, die sowohl für alle Welt sichtbar ist und die Herrschaft des Antichristen beendet als auch die Entrückung der Gemeinde in sich schließt. Dass es sich bei den mit den oben genannten Begriffen bezeichneten Geschehen um ein einziges Ereignis handelt, geht aus der Textstelle 2. Thess 2,8 („ ...und dann wird der Böse offenbart werden. Ihn wird der Herr Jesus umbringen mit dem Hauch seines Mundes und wird ihm ein Ende machen durch seine Erscheinung, wenn er kommt“) besonders deutlich hervor: Denn für „Erscheinung“ steht im griechischen Urtext „epiphaneia“ und für „wenn er kommt“ (so die LÜ) bzw. „Ankunft“ (so z.B. die Revidierte Elberfelder Bibel) „parusia“. Da in diesem Vers mit der „Erscheinung“ Jesu und seiner „Ankunft“ offenkundig ein und dasselbe Ereignis gemeint ist, ist es folglich ausgeschlossen, dass mit „parusia“ an dieser Stelle eine von der allgemeinen Wiederkunft Jesu zu unterscheidende frühere Wiederkunft Jesu zur Entrückung der Gemeinde bezeichnet sein könnte.

 

d)      Die Bibel lehre die Naherwartung der Wiederkunft Jesu

 

Die Anhänger der Vorentrückung sind davon überzeugt, dass die Bibel lehre, dass die Gemeinde die Wiederkunft Jesu zu ihrer Entrückung jederzeit zu erwarten habe. Dies wird etwa aus folgenden Bibelstellen gefolgert: Joh 14,2-3 („In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Wenn`s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin“); Apg 1,11 („Die sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen“); 1. Kor 15,51-52 („Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und das plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune erschallen und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden“); 1. Thess 1,10 („ ...und zu warten auf seinen Sohn vom Himmel, den er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns von dem zukünftigen Zorn errettet“). Eine solche Naherwartung sei aber ausgeschlossen, wenn die Gemeinde erst nach der Großen Trübsal entrückt werde, weil dann Entrückung und Wiederkunft Jesu von der Erfüllung bestimmter Zeichen abhängig wären und damit berechenbar würden.[12]

 

Bewertung: Jesus ermahnt seine Jünger wohl, wachsam zu sein und in der beständigen Erwartung seiner Wiederkunft zu leben (Mt 24,42-44; 45-51; Lk 21,34-36). Aber dennoch kann hieraus oder aus anderen Bibelstellen nicht hergeleitet werden, dass der Wiederkunft Jesu keine erkennbaren Zeichen vorangehen werden. Im Gegenteil weist Jesus in Lk 21,25-31 ausdrücklich auf die Zeichen der Zeit hin: „Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“. Man kann auch nicht in der Weise differenzieren, dass man annimmt, nur der Wiederkunft Jesu für die Welt gingen diese Zeichen voraus, seiner Wiederkunft zur Entrückung der Gemeinde aber nicht. Denn hiermit würde man eine zeitliche Trennung von Entrückung und Wiederkunft voraussetzen, was aber gerade zu beweisen wäre. Und falls man die Ansicht vertritt, dass Jesus diese Zeichen nur Israel gegeben habe, so sei auf 2. Thess 2,7 hingewiesen, wo Paulus der heidenchristlichen Gemeinde in Thessalonich das Erscheinen des Antichristen als ein Zeichen benennt, das der Wiederkunft Jesu vorangehen wird. Dem Gegenargument, dass durch solche Zeichen die Wiederkunft Jesu berechenbar werde, ist entgegenzuhalten, dass dies u.a. voraussetzen würde, dass die Gemeinde den ersten Tag der letzten Jahrwoche, die der Wiederkunft vorausgeht, kennen bzw. richtig bestimmen würde. Dies ist aber wohl nicht möglich, zumal die Berechnung der letzten Jahrwoche schwierig und umstritten ist. Dass auf diese Weise von einem gewissen Zeitpunkt aus eine ungefähre zeitliche Einordnung der Wiederkunft Jesu möglich wird, ist zwar zutreffend. Jedoch hat Jesus dies nicht verboten oder für unmöglich erklärt, als er in Mt 24,36 sagte, dass außer dem Vater niemand jenen Tag und jene Stunde kenne.[13]

 

e)      Die Ankündigung von Friede und Sicherheit

 

In 1. Thess 5,3 sagt Paulus: „Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr –, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau und sie werden nicht entfliehen“. Damit bringe er zum Ausdruck, dass der Tag des Herrn erst nach der Ankündigung von „Friede und Sicherheit“ kommen werde. Wenn sich die Gemeinde in den letzten sieben Jahren aber noch auf der Erde befinden würde, so würde sie während dieser gesamten Zeit verfolgt werden. Dies aber mache es unmöglich, dass der Antichrist die Weltbevölkerung in Frieden und Sicherheit wiegen könne.[14]

 

Bewertung: Bereits in der Vergangenheit haben totalitäre Herrscher ihren Völkern schon des Öfteren Frieden und Sicherheit versprochen, obwohl sie zur gleichen Zeit Kriege planten und führten oder politische, religiöse und andere Gegner massenweise inhaftierten und ermordeten. Denn selbst unter solchen Umständen kann eine Regierung bei der großen Mehrheit der Bevölkerung Vertrauen und Unterstützung finden, falls sie über eine entsprechende Autorität, verbunden mit dem nötigen Propagandaapparat, verfügt, was beim Antichristen und seiner Regierung zweifellos der Fall sein wird. Denkbar wäre auch, dass die endzeitlichen Christenverfolgungen weitgehend heimlich und ohne Wissen und Kenntnis der Öffentlichkeit stattfinden könnten.

 

f)        Die Beziehung der Gemeinde zur Obrigkeit

 

Die Gemeinde wird u.a. in Röm 13,1 ff., 1. Petr 2,13 f. aufgefordert, sich der staatlichen Obrigkeit unterzuordnen. Da die Regierung in den letzten sieben Jahren vor der Wiederkunft Jesu weltweit unter der Kontrolle Satans stehe, sei ihr dies jedoch nicht möglich. Dieser Konflikt sei nur dadurch zu lösen, dass Gott die Gemeinde vor dieser Zeit von der Erde hinwegnimmt.[15]

 

Bewertung: Die gebotene Haltung der Gemeinde gegenüber der Regierung, und zwar auch in einem Unrechtsstaat, ergibt sich u.a. aus Röm 13,1 ff. und 1. Petr 2,13 f. Nach dem dort Gesagten haben sich die Christen ihrer jeweiligen Regierung unterzuordnen und damit deren Gesetze und Anordnungen zu befolgen, es sei denn, diese verlangt von den Christen, Dinge zu tun, die Sünde sind; dann würde Apg 5,29 gelten („Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“). Ebenso sind Aufstand, gewaltsamer Widerstand oder ein Versuch, die Regierung mit gewaltsamen Mitteln zu beseitigen, hiernach verboten. Das Recht der Christen zum Widerspruch und zum friedlichen Protest gegen staatliches Unrecht sowie – in Demokratien – zur Mitgestaltung der politischen Verhältnisse ist damit nicht ausgeschlossen. Diese Grundsätze galten und gelten sowohl in Rechtsstaaten als auch in Unrechtsstaaten, in Demokratien wie in Monarchien und in autoritären oder totalitären Staaten und selbst in solchen Staatssystemen, in denen Vorläufer des Antichristen regierten oder regieren. Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass Paulus den Römerbrief mit seiner Aussage in Röm 13,1 („Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet“) zu einer Zeit schrieb, in der das römische Reich von Kaiser Nero regiert wurde! Auch der vom Antichristen regierte Welteinheitsstaat der letzten Zeit wird zwar ein von diabolischen Mächten und unter Verletzung und Pervertierung aller Gebote Gottes regierter Staat sein, aber er ist immer noch „Staat“ im Sinne des biblischen Staatsverständnisses. Dementsprechend werden die in Röm 13,1 ff. und 1. Petr 2,13 f. enthaltenen Grundsätze für die Christen auch in jenem Staat gelten. Das Argument, dass sich die Christen diesem antichristlichen Staat nicht unterordnen könnten sowie vor allem die daraus gezogene Konsequenz, dass die Gemeinde aus diesem Grunde dann nicht mehr auf der Erde sein könne, erweist sich somit als nicht zutreffend. Zutreffend ist insoweit lediglich, dass sich die Gemeinde dem Willen des Antichristen, der darauf abzielt, dass alle Menschen ihn und sein Bild anbeten und sein Zeichen annehmen (Offb 13,14-16) nicht beugen darf und bereit sein muss, im Falle der Weigerung schwere Verfolgungsmaßnahmen bis hin zur Tötung zu erdulden (vgl. Offb 13,15-17). Denn wer den Antichristen oder sein Bild anbetet oder sein Zeichen annimmt, der wird von Gott ewige Strafe erleiden (Offb 14,9-11).

 

g)      Die Botschaft an Laodicea

 

In Offb 3,14-22 übermittelt Johannes eine Botschaft an die Gemeinde in Laodicea, in der er ihr Lauheit vorwirft und ankündigt, die Lauen aus seinem Munde auszuspeien. Nach Ansicht der Anhänger der Vorentrückung handele es sich bei densind die in Offb 2 und 3 genannten sieben Gemeinden nicht nur um sieben konkrete Gemeinden, an die sich die Sendschreiben richteten, sondern diese Gemeinden seien auch kirchengeschichtlich zu interpretieren, d.h. als verschiedene zeitliche Abschnitte der Geschichte der christlichen Kirche. Zumeist werden diese Zeitabschnitte wie folgt unterteilt und den sieben Sendschreiben zugeordnet: Ephesus = von Pfingsten bis ca. 100 n. Chr.; Smyrna = von ca. 100 n. Chr. bis zur Erhebung des Christentums zur Staatsreligion unter Kaiser Konstantin (312 n. Chr.); Pergamon = von 312 n. Chr. bis ca. 800 n. Chr.; Thyatira = von ca. 800 n. Chr. bis zur Reformation (1517 n. Chr.); Sardes = von 1517 n. Chr. bis ca. 1800 n. Chr.; Philadelphia = von ca. 1800 n. Chr. bis zur Entrückung der Gemeinde; Laodicea = von der Entrückung der Gemeinde bis zur Wiederkunft Jesu.[16]

 

Die Gemeinde von Philadelphia wird diesem Deutungssystem zufolge als die wahre Gemeinde in der Endzeit betrachtet, die von Gott „vor der Stunde der Versuchung bewahrt wird“ (Offb 3,10; siehe dazu näher unter 2 b), indem sie vor Beginn der Weltherrschaft des Antichristen von Gott entrückt werde. Da es unmöglich sei, dass wahre Christen wieder verloren gehen, könne es sich bei der zuletzt beschriebenen Gemeinde von Laodicea nur um eine scheinchristliche Gemeinde von Namenschristen handeln, die nach der Entrückung der wahrhaft Gläubigen auf der Erde zurückbleiben werde.[17]

 

Bewertung: Bereits die sog. „kirchengeschichtliche Auslegung“ der Sendschreiben, auf der dieses Argument beruht, dürfte unzutreffend sein. Gegen dieses Deutungssystem erheben sich einige schwerwiegende Bedenken: Die Reihenfolge der sieben Sendschreiben dürfte höchstwahrscheinlich nicht in der Absicht einer Darstellung kirchengeschichtlicher Zeitabschnitte erfolgt sein, sondern allein durch die geographische Lage der sieben Gemeinden bedingt sein, da diese auf einer gemeinsamen Wegstrecke liegen. Der Text selbst gibt keinen Anlass und Hinweis, der uns dazu berechtigt, diese Botschaften auch als prophetische Darstellung der kirchengeschichtlichen Epochen aufzufassen.

 

Der Deutung der Gemeinde von Laodicea als einer Gemeinde von Namenschristen oder eines entsprechenden kirchengeschichtlichen Abschnitts dürfte bereits entgegenstehen, dass auch diese Gemeinde als Gemeinde wahrer Christen gegründet wurde; sie wurde ebenso wie die übrigen sechs Gemeinden der Sendschreiben von Gott geliebt und zu Buße und Umkehr aufgefordert (Offb 3,19-20). Auch diejenigen Christen, deren Lauheit getadelt wird, waren wohl nicht ausschließlich Namenschristen, sondern – zumindest zu einem Teil – wiedergeborene, wenn auch in Lauheit und Ungehorsam zurückgefallene Christen. Die weitere Behauptung, dass wahre Christen nicht mehr verloren gehen könnten, wird in dem Band „Unverlierbarkeit des Heils“ in der Reihe „Heiße Eisen“ als falsche Sicherheit entlarvt (siehe dort).

 

Schließlich wäre festzustellen, dass der Zustand der Gemeinde Jesu in den letzten 2000 Jahren in den einzelnen Abschnitten der Kirchengeschichte nicht so einheitlich war, dass jeder Abschnitt durch eine der sieben Gemeinden repräsentiert werden könnte.

 

 

h)      Die Zeit der Nationen

 

Ein weiteres Argument für die Vorentrückung wird darauf gestützt, dass die Bibel von einer „Zeit der Heiden“ oder „Zeit der Nationen“ spricht. So weist Jesus in Lk 21,24 darauf hin, dass Jerusalem unter der Herrschaft der Heiden bleiben wird, „bis dass die Zeiten der Heiden erfüllt sein werden“. Und aus Sach 13,2 („Zu der Zeit, spricht der Herr Zebaoth, will ich die Namen der Götzen ausrotten aus dem Lande, dass man ihrer nicht mehr gedenken soll; dazu will ich auch die Propheten und allen Geist der Unreinheit aus dem Land treiben“) und 14,2 („Denn ich werde alle Heiden sammeln zum Kampf gegen Jerusalem. Und die Stadt wird geplündert und die Frauen geschändet werden. Und die Hälfte der Stadt wird gefangen weggeführt werden, aber das übrige Volk wird nicht aus der Stadt ausgerottet werden“) gehe hervor, dass diese Zeiten erst bei der Wiederkunft Jesu enden, nämlich wenn die Heere des Antichristen in der Schlacht bei Harmageddon vernichtet werden. Aus diesen Aussagen folgern die Anhänger der Vorentrückungslehre, dass die letzten sieben Jahre der Zeit der Nationen ausschließlich eine Zeit des Gerichts für Israel seien und die Gemeinde nicht mehr auf der Erde anwesend sei. Auch die in der Endzeitrede in Mt 24,1-44 beschriebenen Ereignisse beträfen nicht die Gemeinde, sondern ausschließlich Israel.

 

Bewertung: Die Interpretation, wonach sich die „Dauer der Zeiten der Heiden“ bzw. der „Nationen“ bis zur Wiederkunft Jesu erstrecke, erscheint keineswegs zwingend, da auch noch andere Auslegungsmöglichkeiten ernsthaft in Betracht kommen. So könnten sich diese Zeiten, sofern von der Herrschaft der Heiden über Jerusalem die Rede ist, auch auf den Zeitraum beziehen, in dem Jerusalem von nichtjüdischen Staaten beherrscht wurde, also von der Erobe-rung durch die Babylonier 587 v. Chr. bis zur Einnahme ganz Jerusalems durch Israel 1967 n. Chr. Aber selbst wenn man die „Zeiten der Heiden“ so versteht, dass sie bis zur Wiederkunft Jesu reichen, so folgt auch hieraus nicht zwingend, dass die Gemeinde dann nicht mehr auf der Erde ist.

 

Schließlich ist auch das Argument, dass sich die in Mt 24 beschriebenen Ereignisse nur auf Israel und nicht auch auf die Gemeinde bezögen, und dass es sich bei den in diesem Kapitel genannten „Auserwählten“ nur um Juden handele, und zwar um diejenigen, die sich in der Großen Trübsal zu Jesus Christus als dem Messias bekehren, nur eine unbewiesene Behauptung. Aus dem Text selbst ergibt sich eine solche Einschränkung nicht und auch hier wäre es seltsam, wenn dieses Kapitel keinen Bezug zur heutigen Gemeinde und zur gesamten Kirchengeschichte hätte.[18]

 

i)        Der wartende Überrest bei der Wiederkunft Jesu

 

Aus verschiedenen Bibelstellen gehe hervor, dass es beim zweiten Kommen Jesu einen gläubigen Überrest aus Israel geben werde, der Jesu Wiederkunft erwarte. Als solche Stellen werden genannt: Hes 20,33 („So wahr ich lebe, spricht Gott, der Herr: Ich will über euch herrschen mit starker Hand, mit ausgestrecktem Arm und mit ausgeschüttetem Grimm“); Sach 13,8-9 („Und es soll geschehen in dem ganzen Lande, spricht der Herr, dass zwei Teile darin ausgerottet werden sollen und untergehen, und nur der dritte Teil soll darin übrig bleiben. Und ich will den dritten Teil durchs Feuer gehen lassen und läutern, wie man Silber läutert und ihn prüfen, wie man Gold prüft. Die werden dann meinen Namen anrufen und ich will sie erhören. Ich will sagen: Es ist mein Volk; und sie werden sagen: Herr, mein Gott!“); Mal 3,16 („Aber die Gottesfürchtigen trösten sich untereinander: Der Herr merkt und hört es, und es wird vor ihm ein Gedenkbuch geschrieben für die, welche den Herrn fürchten und an seinen Namen geden-en“); Offb 7,1-8 (dort wird gesagt, dass jeweils 12.000 aus den 12 Stämmen Israels versiegelt werden). Bei diesem wartenden Überrest handele es sich um eine Verheißung, die ausschließlich an das Volk Israel gerichtet sei. Die Gemeinde dürfe insoweit nicht mit Israel gleichgestellt werden und könne deshalb auch nicht zu den Wartenden gehören. Auch sei bei einer gemeinsamen Entrückung aller Gläubigen niemand mehr da, der Jesus erwarten könne.[19]

 

Bewertung: Aus der Tatsache, dass in Hes 20,33, Sach 13,8 f. und an anderen Stellen im Alten Testament ein „Überrest“ aus Israel genannt wird, der bei der Wiederkunft Jesu vorhanden sein werde, folgt nicht ohne Weiteres, dass die Gemeinde dann nicht mehr auf der Erde ist. Denn es ist durchaus denkbar, dass dieser Überrest die Wiederkunft Jesu gemeinsam mit der Gemeinde erwartet oder sich sogar der Gemeinde angeschlossen hat. Eine solche Möglichkeit von vornherein ausschließen kann man nur dann, wenn man mit der Theologie des Dispensationalismus von einer strikten Trennung zwischen der Gemeinde und Israel aus-geht. Eine solche strikte Trennung lässt sich biblisch jedoch nicht hinreichend nachweisen (vgl. oben unter 1 a).

 

j)        Die typologische Übereinstimmung

 

Als weiteres Argument für die Entrückung vor der Großen Trübsal wird geltend gemacht, dass die Bibel voll von Bildern sei, welche lehren, dass die wahrhaft Gläubigen vor den Strafen des Gerichts errettet würden. Dies gelte nicht nur für das Endgericht, sondern auch für solche Strafgerichte, die von Gott im Laufe der Weltgeschichte verhängt und vollstreckt werden. Als solche typologische Beispiele werden Noah, Rahab und vor allem Lot genannt. Aus diesen Beispielen folge, dass die gläubige Gemeinde auch und erst recht in der Endzeit vor den Gerichten Gottes, die er über die Welt verhängt, bewahrt werde.[20]

 

Bewertung: Auch das „typologische“ Argument erscheint bei näherer Betrachtung keineswegs überzeugend. Sicherlich gibt es in der Bibel Beispiele dafür, dass Gläubige vor Strafgerichten Gottes, die ihre nichtgläubige Umwelt trafen, bewahrt blieben. Insoweit werden mit Recht Noah, Lot und Rahab genannt. Als Gegenbeispiele wurde aber bereits auf das Schicksal Daniels, Hesekiels und Jeremias hingewiesen sowie auf 1. Petr 4,17, wonach das Gericht am Hause Gottes anfängt.


 

2.      Für die Vorentrückungslehre geltend gemachte Bibelstellen und ihre biblische Bewertung

 

a)      2. Thess 2,6-8: „Und ihr wisst, was ihn noch aufhält, bis er offenbart wird zu seiner Zeit. Denn es regt sich schon das Geheimnis der Bosheit; nur muss der, der es jetzt noch aufhält, weggetan werden, und dann wird der Böse offenbar werden. Ihn wird der Herr Jesus umbringen mit dem Hauch seines Mundes und wird ihm ein Ende machen durch seine Erscheinung, wenn er kommt“.

 

Die Anhänger der Vorentrückung gehen davon aus, dass mit dem in 2. Thess 2,6.7 genannten „Aufhaltenden“ der Heilige Geist gemeint sei, der erst beseitigt werden müsse, ehe der „Mensch der Gesetzlosigkeit“, d.h. der Antichrist, offenbar wird. Unter dieser Voraussetzung wird angenommen, dass sich die Gemeinde zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf der Erde befinden könne, da ja der Heilige Geist in ihr wohnt.[21]

 

Bewertung: Die Auslegung der Anhänger der Vorentrückung, wonach der bzw. das „Aufhaltende“ in 2. Thess 6 und 7 der Heilige Geist sei, erscheint bei näherer Betrachtung äußerst fragwürdig: Während der gesamten 2.000 Jahre, die seit dem Tod Jesu vergangen sind, wohnt der Heilige Geist in den Gläubigen der christlichen Gemeinde. Dennoch hat er die Machtergreifung der zahlreichen Vorläufer des Antichristen (wie z.B. Nero, Hitler und Stalin) nicht verhindert. Bereits diese Überlegung lässt es sehr fraglich erscheinen, ob der Heilige Geist derjenige ist, der die Machtergreifung des Antichristen verhinden würde und deshalb zuvor beseitigt werden muss. Die Aufgabe des Heiligen Geistes besteht nach dem Zeugnis der Bibel nicht darin, das Böse in der Welt abzuwehren und gottfeindliche Menschen und Mächte an der Machtausübung zu hindern, sondern vielmehr darin, Tröster, Beistand und Lehrer der Gläubigen zu sein (vgl. z.B. Joh 14,26; Röm 14,7). Die Aufgabe, das Böse in der Welt einzudämmen, hat hingegen der Staat mit seiner Strafandrohung und Exekutivgewalt (vgl. z.B. Röm 13,1-7; 1. Petr 2,13 f.). Ein Staat, der die ihm von Gott zugewiesenen Aufgaben erfüllt, muss allerdings ein Rechtsstaat sein. Aufgrund dessen ist davon auszugehen, dass mit dem „Aufhaltenden“ eine der Herrschaft des Antichristen vorangehende rechtsstaatliche Ordnung (evtl. auch nur in einem oder einigen Staaten) gemeint ist, die – auf welche Weise auch immer – beseitigt werden muss, damit der Antichrist seine widergöttliche Macht ausüben kann. Denn eine gerechte Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung würden ihn in der Tat daran hindern.[22]

 

Ebenfalls ernstlich in Betracht kommt auch eine weitere Auslegung, wonach es sich bei dem Aufhaltenden um einen Engel handelt.[23] Denn Engel werden in der Offenbarung auch an anderen Stellen mit dem „Zurückhalten“ oder „Loslassen“ von Gerichten in Verbindung gebracht (z.B. in Offb 9,14; 14,15; 16,1 ff.) und der Erzengel Michael ist gemäß Dan 10,12 f. ein Schützer des Volkes Israel.

 

b)      Offb 3,10: „Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen“.

 

In diesem Vers wird der Gemeinde in Philadelphia verheißen, dass Gott sie bewahren wird „vor“ (oder: „aus“ bzw. „in“) der Stunde der Versuchung. Die Anhänger der Vorentrückung verstehen die in den sieben Sendschreiben genannten Gemeinden nicht nur als konkrete Gemeinden der damaligen Zeit, sondern zugleich als Abschnitte der Kirchengeschichte (s.o. 1 g). Aufgrund dieser Auslegung verstehen sie die Gemeinde in Philadelphia als die wahre Gemeinde Jesu zur Zeit der bevorstehenden Entrückung. An sie sei nun die Verheißung gerichtet, dass Gott sie „vor der Stunde der Versuchung, die den ganzen Erdkreis erfassen wird“, d.h. vor dem Erleiden der Großen Trübsal, bewahren werde, und zwar in dem Sinne, dass die Gemeinde diese Stunde nicht miterleben müsse, weil sie dann bereits entrückt sei. Die Bewahrung erstrecke sich also nicht darauf, in der Stunde der Versuchung standzuhalten. Das im griechischen Urtext stehende Wort „ek“ sei aufgrund des Zusammenhanges der Textstelle mit „vor“ und nicht mit „aus“ zu übersetzen. Hätte Johannes letzteres aussagen wollen, so hätte er das Wort „en“ statt „ek“ verwendet.[24]

 

Bewertung: Wie schon unter 1 g dargestellt, bin ich der Auffassung, dass die kirchengeschichtliche Auslegung der Sendschreiben, die die Grundlage der obengenannten Auslegung dieser Bibelstelle ist, abzulehnen ist. Somit ist naheliegend, dassbezieht sich die „Stunde der Versuchung“, „vor“ oder „aus“ der Gott die Gemeinde in Philadelphia bewahren wird, von vornherein nicht auf die Große Trübsal und die bevorstehende Bedrohung der weltweiten christlichen Gemeinde durch den Antichristen, sondern lediglich auf eine damals bevorstehende und jetzt in der Vergangenheit liegende Verfolgung dieser Gemeinde bezieht, wie sie unter den römischen Kaisern mehrfach stattgefunden hat, etwa unter Kaiser Domitian (81-96 n. Chr.).

 

Aber selbst wenn man die kirchengeschichtliche Auslegung der Sendschreiben akzeptieren würde, so wäre Offb 3,10 kein Beweis für die Richtigkeit der Ansicht, dass die Gemeinde vor der Großen Trübsal bewahrt bleiben werde. Das Wort, das im Deutschen mit „vor“ übersetzt werden kann (LÜ: „ich werde dich vor der Stunde der Versuchung bewahren“) heißt im griechischen Urtext “ek“, und für „bewahren“ wird das griechische Wort „tereo“ verwendet. „Ek“ kann nun sprachlich sowohl „vor“[25] wie auch „aus“ bedeuten im Sinne von „vor einer Gefahr bewahren“, was bedeutet, dass der Betreffende gar nicht in diese Gefahr kommt, bzw. „aus einer Gefahr bewahren“, was bedeutet, dass er in die Gefahr kommt, aber „aus“ ihr errettet wird. Bei einer Verbindung von „ek“ mit „tereo“ (bewahren) oder „sozo“ (erretten) soll erstere Bedeutung überwiegen[26]. Jedoch hat in Joh 175,157 dieselbe Wortkombination (LÜ: „ ...sondern, dass du sie vor dem Bösen bewahrst“) offensichtlich die Bedeutung, dass die Christen nicht in dem Sinne bewahrt werden, dass sie von dem Bösen nicht angefochten und in Gefahr gebracht werden können (denn die Bibel bezeugt eindeutig, dass die Christen vom Bösen angefochten und geistlich sowie an Leib und Seele bedroht werden können; vgl. z.B. Joh 15,18 ff.; Eph 6,12 ff.; 1. Petr 5,8), sondern insofern bewahrt werden, dass Gott verhindert, dass der Böse Macht über sie gewinnt und sie wieder von Gott losreißt (vgl. z.B. Röm 8,38 f.; 1. Joh 5,18).[27]

 

Das Gegenargument, dass Johannes die Mehrdeutigkeit seiner Aussage in Offb 3,10 mühelos dadurch hätte vermeiden können, dass er statt „ek“ „en“ geschrieben hätte,[28] falls er tatsächlich habe aussagen wollen, dass die Gemeinde „aus“ (bzw. „in“) der Versuchung bewahrt werden soll, ist nicht stichhaltig. Denn es gibt gute Gründe, warum er dies nicht getan hat:

 

„En“ hätte vor allem die Betonung auf das Sich-Befinden der Gemeinde in der Versuchung gelegt, während „ek“ die ganze Betonung auf das Herauskommen legt. Und nur dies entspricht dem Aussagegehalt, den Gott mit diesem Vers vermitteln wollte, nämlich das letztendliche, siegreiche Ergebnis der schützenden Bewahrung.[29] Aus dem gleichen Grund hat Johannes an dieser Stelle nicht das Wort „dia“ (durch) verwendet; in diesem Fall wäre die Betonung zwischen dem Hereinkommen, dem Sich-darin-Befinden und dem Herauskommen verteilt.[30] Auch dies hätte jedoch nicht dem Aussageinhalt entsprochen, den Gott mit diesem Vers vermitteln wollte.

 

c)      Offb 4,10-11: „ ...fielen die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem, der auf dem Thron saß, und beteten den an, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, und legten ihre Kronen nieder vor dem Thron und sprachen: Herr, unser Gott, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft, denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen waren sie und wurden sie geschaffen“.

 

Die hier genannten 24 „Ältesten“ werden von den Anhängern der Vorentrückung als Repräsentanten der neutestamentlichen Gemeinde interpretiert, die auferstanden und in den Himmel entrückt sind. Offb 4 wird dieser Auslegung zufolge zeitlich vor Offb 5 ff. und damit auch vor Offb 11 eingeordnet, wo der Beginn der Herrschaft des Antichristen beschrieben werde. Hieraus folge eindeutig, dass die Gemeinde während der sieben Jahre der antichristlichen Weltherrschaft bereits entrückt sein müsse.[31]

 

Bewertung: Es ist bereits nicht eindeutig, ob es sich bei den 24 als „Älteste“ bezeichneten Wesen in Offb 4,10 tatsächlich um „Älteste“ im Sinne von Leitern und Repräsentanten christlicher Gemeinden und nicht etwa um Engel handelt,[32] wenn auch zuzugeben ist, dass die erstgenannte Auslegung wohl die besseren Argumente für sich hat.[33] Aber auch dann, wenn man davon ausgeht, dass es sich um Älteste handelt, wäre zu untersuchen, ob es sich nur um Repräsentanten der neutestamentlichen Gemeinde oder aber um 12 Älteste des Alten und 12 des Neuen Bundes handelt.[34] Wäre letzteres der Fall, so könnte diese Textstelle kaum für die Entrückung der Gemeinde vor der Großen Trübsal herangezogen werden. Denn die Gläubigen des Alten Bundes werden auch nach Ansicht der meisten Vertreter der Vorentrückung erst bei der Wiederkunft Jesu und damit erst nach der Großen Trübsal auferstehen,[35] sodass die in Offb 4 geschilderte Szene im Himmel auch nach de-ren Sicht erst nach der Großen Trübsal stattfinden könnte und damit im Hinblick auf die Feststellung des Zeitpunktes der Entrückung der Gemeinde nicht aussagekräftig wäre.

 

Das Problem der zeitlichen Einordnung von Offb 4 und 5 stellt sich allerdings selbst dann, wenn man annimmt, dass es sich bei den 24 Ältesten nur um Älteste der neutestamentlichen Gemeinde handelt. Denn als Argument für die Entrückung der Gemeinde vor der Großen Trübsal lassen sich diese Kapitel nur unter der weiteren Voraussetzung verwenden, wenn man sie zeitlich vor Offb 6 und zugleich unmittelbar vor der Großen Trübsal einordnet. Dies wiederum würde als erstes voraussetzen, dass die in der Offenbarung in den Kapiteln 6 bis 19 geschilderten Ereignisse zeitlich alle in den letzten sieben Jahren vor der Wiederkunft Jesu stattfinden. Viele Ausleger nehmen dies auch an.[36] Jedoch erscheint dies sehr problematisch, und zwar gerade dann, wenn man annimmt, dass sich die Gemeinde während dieser Zeit gar nicht mehr auf der Erde befindet. Denn dann hätte Gott der Gemeinde einen – noch dazu ziemlich langen und ausführlichen – Bericht über einen Zeitraum der Geschichte gegeben, der sie im Grunde genommen gar nicht mehr betreffen würde. Auch erscheint es schwer vorstellbar, dass die ungeheure Fülle der Ereignisse (u.a. mehrere weltweite Kriege; vgl. Offb 6,3-4 und Offb 9,13-19) in einem zeitlichen Rahmen von nicht mehr als sieben Jahren stattfinden soll und kann.[37] Aber selbst wenn man trotz dieser Bedenken annehmen will, dass Offb 6-19 nur die letzten sieben Jahre vor der Wiederkunft Jesu umfassen, so steht damit keineswegs fest, dass die in Offb 4 und 5 geschilderte Szene vor dem Thron Gottes zeitlich davor einzuordnen ist. Denn viele Anhaltspunkte sprechen für die Annahme, dass Johannes hier in prophetischer Vorausschau das siegreiche Ende der Gemeinde nach der Wiederkunft Jesu und vielleicht sogar erst nach Schaffung des neuen Himmels und der neuen Erde gesehen hat. Dafür spricht z.B. Offb 5,13, wo es heißt, dass „alle Geschöpfe im Himmel und auf der Erde, unter der Erde und auf dem Meer“ Gott loben und ihm die Ehre geben. Davon kann aber sieben Jahre vor der Wiederkunft Jesu noch keine Rede sein, denn in dieser Zeit wird ja die weltweite Auflehnung der Menschen und des Teufels gegen Gott gerade kulminieren (sich zuspitzen). Erst nach Jesu Wiederkunft (und im Hinblick auf Offb 20,7-10 letztlich sogar erst nach dem Weltgericht) wird man sagen können, dass Jesus Christus sich Himmel und Erde unterworfen und alle seine Feinde besiegt hat. Dann erst werden auch alle seine Feinde ihm die Ehre geben und ihre Knie vor ihm beugen müssen (vgl. auch Phil 2,10-11).

 

Bei näherer Betrachtung wird man also zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass durch die genannten Textstellen in Offb 4 und 5 die Entrückung der Gemeinde vor der Großen Trübsal keineswegs nahegelegt oder gar bewiesen wird.

 

d)      Offb 11,3: „Und ich will meinen zwei Zeugen Macht geben, und sie sollen weissagen tausendzweihundertundsechzig Tage lang, angetan mit Trauerkleidern“.

 

In Offb 11,3 werden zwei besondere Abgesandte von Gott beauftragt, die ihren göttlichen Ursprung durch bestimmte Zeichen bekräftigen. U.a. aus der Tatsache, dass sie mit Sacktuch bekleidet sind, folgern die Anhänger der Vorentrückung, dass sie wie Elia und die alttestamentlichen Propheten ausschließlich dazu berufen seien, Israel zur Buße zu rufen und ihm die Gerichte Gottes anzukündigen. Ein solcher Auftrag könne im Übrigen auch deshalb nicht an die Gemeinde gerichtet werden, da dieser nur die Botschaft der Gnade verkündigt werden könne.[38] Auch diese Botschaft der zwei Zeugen sei ein Hinweis darauf, dass die Gemeinde zu diesem Zeitpunkt bereits entrückt sei.

 

Bewertung: Es dürfte zwar richtig sein, dass sich die zwei Zeugen in Offb 11 – deren Identität unter den Auslegern stark umstritten ist –[39], mit ihrer Gerichtsbotschaft und ihrem Aufruf zur Buße ausschließlich an das Volk Israel und vor allem an die Bewohner der Stadt Jerusalem wenden. Aber aus dieser Tatsache folgt keineswegs zwingend, dass sich die Gemeinde zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf der Erde befindet. Das Argument, wonach an die Gemeinde eine Botschaft wie die der zwei Zeugen von ihrem Inhalt und ihrer Zielsetzung her prinzipiell nicht ergehen könne, dürfte im Übrigen schon dadurch zu widerlegen sein, dass Gott durchaus eine Reihe von Bußrufen und Warnungen vor Gottes Gericht an die neutestamentliche Gemeinde richtet. Man betrachte z.B. Joh 15,6 („Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und sie müssen brennen“); Hebr 2,1 („Darum sollen wir desto mehr achten auf das Wort, das wir hören, damit wir nicht am Ziel vorbeitreiben“), Hebr 3,15 („Wenn es heißt: „Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht, wie es bei der Verbitterung geschah“); 1. Joh 2,28 („Und nun, Kinder, bleibt in ihm, damit wir, wenn er offenbart wird, Zuversicht haben und nicht zuschanden werden vor ihm, wenn er kommt“) und vor allem in der Offenbarung die in den Sendschreiben an die Gemeinden von Sardes und Laodicea enthaltenen Warnungen (Offb 3,3 [„So denke nun daran, wie du empfangen und gehört hast, und halte es fest und tue Buße! Wenn du aber nicht wachen wirst, werde ich kommen wie ein Dieb und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde“] und 3,15-16 [„Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde“]).

 

e)      Offb 14,1-5: „Und ich sah, und siehe, das Lamm stand auf dem Berg Zion und mit ihm hundertvierundvierzigtausend, die hatten seinen Namen und den Namen seines Vaters geschrieben auf ihrer Stirn. Und ich hörte eine Stimme vom Himmel wie die Stimme eines großen Wassers und wie die Stimme eines großen Donners, und die Stimme, die ich hörte, war wie von Harfenspielern, die auf ihren Harfen spielen. Und sie sangen ein neues Lied vor dem Thron und vor den vier Gestalten und vor den Ältesten, und niemand konnte das Lied lernen außer den hundertvierundvierzigtausend, die erkauft sind von der Erde. Diese sind`s, die sich mit Frauen nicht befleckt haben, denn sie sind jungfräulich, die folgen dem Lamm nach, wohin es geht. Diese sind erkauft aus den Menschen als Erstlinge für Gott und das Lamm, und in ihrem Mund wurde kein Falsch gefunden; sie sind untadelig“.

 

Die hier genannten 144.000 werden von den Anhängern der Vorentrückung als eine von Gott besonders erwählte Anzahl aus dem gläubigen Überrest Israels angesehen. Und zwar handele es sich hierbei, was sich aus dem als Parallelstelle angesehenen Abschnitt Offb 7,4-8 ergebe, um 12.000 aus jedem der zwölf Stämme Israels. Dieses besondere Handeln Gottes mit Israel sei erst dann möglich, wenn Gottes Handeln mit der Gemeinde beendet und die Gemeinde entrückt sei.[40]

 

Bewertung: Es ist bereits nicht eindeutig, ob es sich bei den versiegelten 144.000 wirklich um den bei der Wiederkunft Jesu vorhandenen gläubigen Überrest Israels handelt. Auch insoweit gibt es eine Vielzahl stark voneinder abweichender Auslegungen, von denen sich wohl keine eindeutig als richtig beweisen lässt. So ist z.B. nach anderer Auffassung bei den 144.000 an denjenigen Teil der Juden zu denken, der in der ersten Hälfte der siebenjährigen Weltherschaft des Antichristen zum Glauben kommt. Nach wieder anderer Ansicht bedeuten die 144.000 lediglich eine symbolische Zahl, die entweder die bei der Wiederkunft Jesu vollzählige aus Juden und Heiden bestehende neutestamentliche Gemeinde, die Erlösten der gesamten Heilsgeschichte oder die christliche Gemeinde in der Großen Trübsal versinnbildlichen solle.

 

Aber auch dann, wenn mit den 144.000 tatsächlich der gläubige Überrest aus Israel gemeint ist, so würde auch dies nicht beweisen, dass die Gemeinde dann bereits entrückt ist, zumal es unstreitig ist, dass Juden auch schon vor dem Ende der „Zeiten der Heiden“ zum Glauben an Jesus Christus kommen, wofür Paulus ein herausragendes Beispiel ist (vgl. Röm 11,1 b).

 

Letzten Endes gelangt man bei einer eingehenden Überprüfung sowohl der Argumente als auch der einzelnen Bibelstellen, die von den Anhängern der Vorentrückung herangezogen werden, zu dem Eindruck, dass sie zu einem großen Teil auf theologischen Prämissen beruhen, die ihrerseits biblisch nicht erwiesen sind oder sogar recht fragwürdig erscheinen, wie z.B. das Postulat einer strikten Trennung zwischen Gemeinde und Israel oder die Annahme, dass die Gemeinde vor allen Strafgerichten Gottes bewahrt bliebe.


 

3.      Bibelstellen, die die Vorentrückungslehre widerlegen

 

Nachdem festgestellt wurde, dass die zuvor genannten Bibelstellen nicht geeignet sind, die Vorentrückungslehre zu beweisen oder auch nur nahezulegen, sollen an dieser Stelle eine Anzahl von Bibelstellen dargestellt werden, die diese Lehre widerlegen:

 

a)      Lk 21,34-36:Hütet euch aber, dass eure Herzen nicht beschwert werden mit Fressen und Saufen und täglichen Sorgen und dieser Tag nicht plötzlich über euch komme wie ein Fallstrick; denn er wird über alle kommen, die auf der ganzen Erde wohnen. So seid allezeit wach und betet, dass ihr stark werdet, zu entfliehen diesem allen, was geschehen soll, und zu stehen vor dem Menschensohn“.

 

Jesus lehrte, dass die Gläubigen wachsam sein sollten, damit der Tag seines sichtbaren Kommens nicht plötzlich über sie komme. Mit dem Ausdruck „über euch“ in Vers 34 werden die Jünger Jesu angesprochen. Diese in Vers 36 Angesprochenen leben während der in Vers 35 beschriebenen Ereignisse noch auf der Erde. Der Herr sagte nicht, sie sollten wachen, damit sie (zeitlich) vor jenem Tage entrückt würden, sondern sie sollten wachen, dass „jener Tag“ nicht „plötzlich über sie“ komme. Wer mit Hinweis auf Vers 36 einwendet, die wahren Gläubigen würden jenem Tag „entfliehen“, indem sie entrückt würden, geht an der Aussage von Lk 21,34-36 vorbei: „Entfliehen“ ist aktiv, entrücktwerden ist passiv. Und das, wovor die Gläubigen „entfliehen“ sollen, ist nicht die Christenverfolgung oder die Große Trübsal, sondern das göttliche Endgericht (vgl. auch Röm 2,3; 1, Thess 5,3; Hebr 2,3; Offb 6,17).

 

b)      1. Kor 15,51: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und das plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune.

 

Die letzte Posaune wird gemäß Mt 24,31 dann ertönen, wenn der Herr sichtbar wiederkommt und in Verbindung mit diesem Wiederkommen seine Erwählten sammelt. Auch hier verbindet Paulus den Tag des sichtbaren Kommens Jesu zum Gericht mit der Entrückung.

 

a)c)      1. Thess 4,16-17: „Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen. Danach werden wir, die wir leben und übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in die Luft, dem Herrn entgegen, und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit“.

 

Aus der hier beschriebenen Reihenfolge der Wiederkunft Jesu, der Auferstehung der gläubigen Verstorbenen und der Entrückung der lebenden Gläubigen geht meiner Meinung nach eindeutig hervor, dass die Entrückung nicht schon vor der Großen Trübsal erfolgt und auch nicht während der Großen Trübsal, sondern zeitgleich mit der Wiederkunft Jesu. Die Entrückten werden dem wiederkommenden Christus entgegen gerückt und kehren mit ihm unmittelbar darauf gemeinsam mit ihm zur Erde zurück.[41]

 

d)      1. Thess 5,4: „Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme“.

 

 

Nachdem Paulus in 1. Thess 4,13-18 über die Entrückung geschrieben hat, spricht er in 1. Thess 5,1-4 von den Zeiten und Zeitpunkten. Dann wird „plötzliches Verderben“ über die Ungläubigen kommen (Vers 3); für die Gläubigen jedoch wird oder soll jener Tag nicht „wie ein Dieb“ kommen und nicht „plötzliches Verderben“ bedeuten, denn diese werden ermahnt, dass sie nicht in der Finsternis sein sollen. Wären sie zu diesem Zeitpunkt bereits entrückt, so wäre es nicht sinnvoll, zu ihnen in dieser Weise zu sprechen, denn dann wäre dieser Tag, der „wie ein Dieb“ kommt, für sie ohne jede Bedeutung.

 

b)e)      2. Thess 2,3-4: „Lasst euch von niemandem verführen, in keinerlei Weise; denn zuvor muss der Abfall kommen und der Mensch der Bosheit offenbart werden, der Sohn des Verderbens. Er ist der Widersacher, der sich erhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, sodass er sich in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott“.

 

Hieraus wird deutlich, dass der Abfall vom Glauben und das Auftreten des Antichristen („Mensch der Bosheit“) der Entrückung vorangeht. Die Bibel kündigt für die Endzeit an, dass viele vom Glauben abfallen werden (vgl. z.B. Mt 24,10; 1. Tim 4,1). Es ist zwar anzunehmen, dass dies nicht nur während der letzten sieben Jahre vor der Wiederkunft Jesu geschehen wird, sondern schon vorher einsetzt, aber in den letzten sieben Jahren wird der zum Glaubensabfall führende Sog aufgrund der Weltherrschaft des Antichristen und seiner Verfolgungsmacht sicherlich seinen Höhepunkt erreichen.

 

Wenn hiergegen geltend gemacht wird, das zumeist mit „Abfall“ übersetzte griechische Wort „apostasis“ sei hier mit „Weggang“ zu übersetzen und damit sei die Entrückung gemeint,[42] so vermag dies nicht zu überzeugen. Denn während das Verb „aphistemi“, von dem „apostasis“ abgeleitet ist, verschiedene Bedeutungen hat, zu denen neben „abtrünnig sein“, „sich von einer Person oder Sache abwenden“ o.ä. auch das physische Weggehen gehört, wird „apostasis“ ausschließlich im Sinne von „Abfall“, „Rebellion“, „Bosheit“ und „Untreue“ verwendet.[43]

 

Auch der Antichrist wird sich erst zu Beginn seiner Weltherrschaft, d.h. zu Beginn der letzten sieben Jahre, in den (wiedererbauten) Tempel in Jerusalem setzen, nachdem er von den Juden als Messias anerkannt wurde.

 

Wäre die Gemeinde zu diesem Zeitpunkt schon entrückt, so wären diese Warnungen des Paulus vor dem Antichristen, die er an die heidenchristliche Gemeinde in Thessalonich richtet (auch in den Versen 6-8), im Übrigen gegenstandslos.

 

f)        1. Tim 6,13-14: „Ich gebiete dir vor Gott, der alle Dinge lebendig macht, und vor Christus Jesus, der unter Pontius Pilatus bezeugt hat das gute Bekenntnis, dass du das Gebot unbefleckt, untadelig haltest bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus“.

 

Der Zielpunkt der Wirksamkeit des Timotheus ist also die Erscheinung des Herrn. Da die Gläubigen auf diese Erscheinung hin leben (Tit 2,13) ist damit zu rechnen, dass die Gemeinde Jesu nicht eine Zeitlang vor der sichtbaren Ankunft und Erscheinung des Herrn entrückt wird.

 

c)g)      Dan 7,21: „Und ich sah das Horn kämpfen gegen die Heiligen, und es behielt den Sieg über sie“; Offb 13,7: „Und ihm (dem Tier; Th.Z.) wurde Macht gegeben, zu kämpfen mit den Heiligen und sie zu überwinden; und ihm wurde Macht gegeben über alle Stämme und Völker und Sprachen und Nationen“.

 

Aus dieser Stelle sowie aus Mt 24,15-22 geht hervor, dass das „elfte Horn“ bzw. das „Tier“, d.h. der Antichrist, mit den „Heiligen“, d.h. der gläubigen Gemeinde, kämpfen und sie (äußerlich) besiegen wird. Bei Daniel findet diese Verfolgung in dem räumlichen Rahmen eines wiederentstehenden römischen Reiches statt[44] und in Offb 13,7 ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang eindeutig, dass es sich dabei um eine weltweite Christenverfolgung handeln wird: In beiden Fällen gilt: „Wenn die Gemeinde nicht mehr auf Erden wäre, mit wem wollte der Antichrist dann streiten? In diese antichristliche Trübsal muss die Gemeinde Jesu hinein...“[45] Dieses Ergebnis wird bestätigt durch Offb 7,14, wo es heißt, dass die Schar der Geretteten, die Johannes sieht, aus der Großen Trübsal (oder: Drangsal) stammt. Der hier verwendete biblische Begriff dürfte eindeutig identisch sein mit dem Begriff, der für die Große Trübsal der letzten sieben Jahre vor der Widerkunft Jesu verwendet wird (etwa in Dan 12,1 und Mt 24,21) und nicht als „fachneutraler Begriff“ zu verstehen sein[46], der lediglich die allgemeine Feindschaft der Welt gegenüber der Gemeinde zum Ausdruck bringen wolle. Ebenso wenig ergibt sich aus den Textstellen oder aus dem Zusammenhang, dass es sich bei den hier Genannten und vom Antichrist Verfolgten um Juden handelt.


 

4.      Wann wird die Gemeinde tatsächlich entrückt?

 

Nachdem festgestellt wurde, dass die Lehre von der Vorentrückung letztlich keine biblische Stütze hat, ergibt sich daraus zwangsläufig, dass die Gemeinde in die Große Trübsal hinein muss. Allerdings ist damit noch nicht die Frage beantwortet, ob sie den gesamten Zeitraum der Großen Trübsal durchleiden muss oder aber nur einen Teil dieses Zeitraums und während der sieben Jahre der Großen Trübsal entrückt wird. Hierzu bestehen verschiedene Auffassungen. Diese Frage soll hier jedoch nicht abschließend und erschöpfend behandelt werden, denn das Hauptanliegen dieses Buches ist es, die Lehre von der Vorentrückung als falsche Sicherheit nachzuweisen, nicht aber sämtliche Fragen zu Endzeit und Wiederkunft Jesu zu beantworten. Insoweit mag sich jeder eine verantwortliche Überzeugung anhand der jeweils vorgebrachten biblischen Begründungen bilden. Im Wesentlichen werden hierzu drei Ansichten vertreten, die mit ihren wichtigsten Begründungen kurz dargestellt werden sollen:

 

a)      Die Lehre von der Entrückung in der Mitte der Großen TrübsalGroßen Trübsal

 

Ihr zufolge wird die Gemeinde in der Mitte der Großen Trübsal, also dreieinhalb Jahre vor der Wiederkunft Jesu entrückt. Begründet wird diese Auffassung u.a. mit 1. Kor 15,52. Dort wird gesagt, dass die Auferstehung der Gläubigen „zur Zeit der letzten Posaune“ erfolgen wird. Auch in 1. Thess 4,16 heißt es, dass sie dann erfolgt, wenn die Posaune erschallen wird. Diese Posaune sei identisch mit der siebten Posaune in Offb 11,15. Diese aber erschalle zeitlich vor der in Offb 12,5 beschriebenen Verfolgung Israels durch den Antichristen, aber nach dem Beginn der Weltherrschaft des Antichristen, die ab Offb 11,1 beschrieben werde. Die Verfolgung der Juden beginne aber erst in der zweiten Hälfte der siebenjährigen Herrschaftszeit des Antichristen, was sich aus Bibelstellen wie Dan 7,25, 12,7 und Offb 12,6 ergebe. Da die Entrückung der lebenden Gläubigen gemäß 1. Thess 4,17 zum gleichen Zeitpunkt wie die Auferstehung der verstorbenen Gläubigen geschehe, folge hieraus, dass auch die Entrückung zur Zeit der letzten Posaune und damit in der Mitte der Großen Trübsal geschehe. Als weiteres Argument wird vorgebracht, dass Gott es zwar zulasse, dass die Gemeinde in den Anfang der Großen Trübsal hineinmüsse, dass er sie aber vor dem Höhepunkt der Großen Trübsal in deren zweiter Hälfte bewahre. Die Gemeinde werde zwar erprobt und geläutert, aber nicht über ihr Vermögen hinaus (vgl. 1. Kor 10,13).

 

b)      Die Lehre von der Entrückung in der Mitte bzw. zu einem unbestimmten Zeitpunkt in den letzten dreieinhalb Jahren

 

Ihr zufolge wird die Gemeinde in der Mitte der letzten dreieinhalb Jahre entrückt, also etwa zwei Jahre vor der Wiederkunft Jesu. Begründet wird diese Auffassung vor allem mit Mt 24,21-22. Dort sagt Jesus: “Denn es wird dann eine große Bedrängnis sein, wie sie nicht gewesen ist vom Anfang der Welt bis jetzt und auch nicht wieder werden wird. Und wenn diese Tage nicht verkürzt würden, so würde kein Mensch selig werden; aber um der Auserwählten willen werden diese Tage verkürzt". Gott verkürze diese Zeit dadurch, dass er die Gemeinde nicht bis zur Wiederkunft Jesu in der Großen Trübsal belässt, sondern sie einige Zeit vorher entrückt. [47]

 

c)      Die Lehre von der Entrückung am Ende der Großen Trübsal

 

Ihr zufolge geschieht die Entrückung erst zeitgleich mit der Wiederkunft Jesu. Begründet wird diese Auffassung etwa damit, dass aus Offb 20,1 zu entnehmen sei, dass die Auferste-hung der Gläubigen (die „erste Auferstehung“) zeitgleich mit der Wiederkunft Jesu erfolge. Aus 1. Thess 4,16 wiederum gehe hervor, dass die Entrückung der Gemeinde gleichzeitig mit der Auferstehung der verstorbenen Gläubigen stattfinde, sodass also Entrückung, Auferstehung der Gläubigen und Wiederkunft Jesu zeitlich zusammenfallen. Ferner sei die Gemeinde in den nunmehr fast 2.000 Jahren ihrer Existenz immer wieder schweren Verfolgungen ausgesetzt gewesen, was auch in der Bibel ausdrücklich angekündigt werde (z.B. in Joh 15,20; Apg 14,22; 2. Tim 3,12). Aufgrund dessen sei es unwahrscheinlich, dass sie vor der letzten großen Verfolgung durch den Antichristen verschont bleibe. Im Gegenteil werde die Verfolgung der Gemeinde durch den Antichristen in der Bibel ausdrücklich angekündigt (Dan 7,21; Mt 24,9; Offb 13,7; dazu näher unter 3 c).

 

Weitere Argumente sind1. Thess 4,17 und 2. Thess 3,2-8 (dazu näher die unter 3 a und bis f genannten Bibelstellen.


 

b).

 

5.      Zusammenfassung und Ergebnis

 

Die Untersuchung aller wichtigen in Betracht kommenden Bibelstellen und Argumente hat ergeben, dass die Lehre von der Vorentrückung unzutreffend ist und dass die Gemeinde in die bevorstehende Große Trübsal hinein muss. Der Pfarrer und Evangelist Ernst Modersohn stell-te fest: „Aber als ich diese Lehre von der Entrückung (vor der Großen Trübsal; Th.Z.) biblisch zu begründen suchte, da fand ich keinen Schriftbeweis. Im Gegenteil, ich machte die Entdeckung, daß auch die Gemeinde ihr Gethsemane hat, wie der Herr, daß sie durch die große Trübsal hindurch muß“.[48] Ob sie die Große Trübsal bis zum Ende durchleiden muss oder aber vorher entrückt wird, wird auch von den Gegnern der Vorentrückungslehre unterschiedlich beantwortet (s.o. 4). Nach meiner persönlichen Überzeugung wird die Gemeinde erst am Ende der sieben Jahre der Großen Trübsal zeitgleich mit der Wiederkunft Jesu entrückt.

 

Bei der Lehre von der Vorentrückung handelt es sich somit um eine falsche Sicherheit, da ihre Konsequenz, dass die Gemeinde die Große Trübsal mit der Weltherrschaft des Antichristen und der damit verbundenen Christenverfolgung nicht zu erleiden brauche, nicht der biblischen Wahrheit entspricht. Die Gefahren dieser Lehre bestehen in der Tat darin, dass ihre Anhänger, die zu Beginn der Großen Trübsal leben, auf die Herrschaft des Antichristen und die von ihm ausgehende Verfolgung nicht vorbereitet und von ihr überrascht sein werden, da sie der festen Überzeugung sein werden, dass sie vorher entrückt würden. Diese mangelnde geistliche Vorbereitung bringt die Gefahr mit sich, dass sie dieser Verfolgung erliegen. Ebenso besteht die Gefahr, dass sie der antichristlichen Verführungsmacht erliegen, da sie den Antichristen als Weltherrscher nicht erkennen werden, da sie ja der Überzeugung sind, dass sie zuvor entrückt würden und ihm und seiner Herrschaft nicht begegnen.

 

Somit erscheint es unbedingt geboten, die Gemeinde Jesu zur Wachsamkeit aufzurufen und sie auf die bevorstehende Große Trübsal vorzubereiten. Dazu gehört es auch, darauf hinzuweisen, dass die in manchen Kreisen quasi als unumstößlich feststehende Vorentrückungslehre keineswegs eine ausreichende biblische Begründung besitzt, geschweige denn sich eindeutig aus der Bibel herleiten lässt. Auf der anderen Seite sollten Streit oder gar Spaltungen in der Gemeinde wegen Meinungsverschiedenheiten in dieser Frage unbedingt vermieden werden.



[1] Unter dem ”Millennium” wird eine tausendjährige Christusherrschaft auf der Erde verstanden. Der Prämillennialismus geht davon aus, dass dies nach der Wiederkunft Jesu geschehen werde, sodass die Wiederkunft Jesu ”vor” (lat.: ”prä”) dem Millennium liegt.

[2] In diesem Sinne z.B. J. Dwight Pentecost, Bibel und Zukunft, dt. 1993, S.221 ff.; John F. Walvoord, Brennpunkte biblischer Prophetie, dt. 1992, S.256; René Pache, Die Wiederkunft Jesu Christi, 12. Aufl. 1993, S.95.

[3] Vgl. die gute Übersicht über die verschiedenen Standpunkte bei Thomas Schirrmacher, Der Römerbrief, Bd. 2, 2. Aufl. 2001, S.161-186.

[4] So wurden z.B. die römischen Kaiser Nero, Domitian und Diokletian, ferner Napoleon, Hitler und Stalin sowie verschiedene Päpste als Antichristen angesehen.

[5] So treffend der schweizerische Theologe Frédéric Godet (1812-1900), zitiert bei Pache aaO, S.139.

[6] Vgl. dazu etwa Gerhard Maier, Matthäus-Evangelium, 1. Teil, Edition-C-Kommentar, 1996, S.543 ff., 547.

[7] Dieser Satzteil wird wohl richtigerweise wie folgt übersetzt: ”bis ein Gesalbter, ein Fürst, kommt, sind es sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen; es wird wieder aufgebaut sein Platz und Graben”.

[8] So z.B. Pentecost aaO, S.215 f.

[9] Vgl. dazu näher Lothar Gassmann, Was kommen wird, 2002, S.123 ff. Anderer Ansicht ist z.B. Stuart Olyott, Daniel – ”Unbestechlich!”, dt. 2001, S.171 ff., der der Meinung ist, dass sich die 70. Jahrwoche zeitlich unmittelbar an die übrigen 69 Jahrwochen angeschlossen habe.

[10] Die ersten 69 Jahrwochen umfassen vermutlich den Zeitraum von 445 v. Chr. bis 32. n. Chr., d.h. vom Befehl des Perserkönigs Artaxerxes zum Wiederaufbau der Stadt Jerusalem bis zur Kreuzigung Jesu. Vgl. dazu näher die sehr guten Begründungen dieser Auffassung u.a. bei Pentecost aaO, S.264 ff., Walvoord aaO, S.154 f. und Gassmann aaO, S.122 ff. Jedoch gibt es daneben noch zahlreiche weitere Deutungen.

[11] In diesem Sinne z.B. Pentecost aaO, S.227 f.; Walvoord aaO, S.259 f.

[12] In diesem Sinne z.B. Pentecost aaO, S.224 f.

[13] Vgl. dazu Pache aaO, S.82.

[14] Pentecost aaO, S.231.

[15] Pentecost aaO.

[16] In diesem Sinne z.B. Andrew Miller, Geschichte der christlichen Kirche, Bd. I, 4. Aufl. 1983, Einl. S.6-9; Pentecost aaO, S.176.

[17] So z.B. Pentecost aaO, S.234.

[18] Vgl. dazu näher Gassmann aaO, S.158.

[19] In diesem Sinne z.B. Pentecost aaO.

[20] So Pentecost aaO, S.238..

[21] So z.B. Pentecost aaO, S.225 f.; Pache aaO, S.93 f.; vgl. dazu ausführlich Paul D. Feinberg, in: Thomas Ice/ Timothy Demy (Hrsg.), Wenn die Posaune schallt, dt. 2000, S.331-334.

[22] Auch Paul D. Feinberg, der selbst die Auffassung vertritt, dass der Aufhaltende der Heilige Geist sei, will nicht ausschließen, ”dass es sich hier um die richtige Deutung handelt” (in Ice/Demy aaO, S.332).

[23] In diesem Sinne etwa Werner de Boor, Die Offenbarung des Johannes, Wuppertaler Studienbibel, Sonderausgabe, 1989, S.141 f.; Gassmann aaO, S.153 f.

[24] In diesem Sinne z.B. Pentecost aaO, S.235 ff.

[25] Und zwar nicht zeitlich ”vor”, sondern sachlich ”vor”.

[26] Vgl. Pentecost aaO, S.236.

[27] Vgl. dazu auch Gassmann aaO, S.154 f.

[28] So Henry C. Thiessen, Will the church pass trough the tribulation?, 1914, S.22-24, zitiert bei Pentecost aaO, S.237.

[29] So treffend Robert H. Gundry, The Church And the Tribulation, 1973, S.54 ff.

[30] Gundry aaO.

[31] In diesem Sinne z.B. Pentecost aaO, S.228 ff., Pache aaO, S.96.

[32] In letzterem Sinne etwa Alexander Reese, The approaching advent of Jesus Christ, o.J., S.92; Pohl aaO, S.171 f.

[33] Vgl. dazu näher Pentecost aaO, S.228 ff.

[34] In letzterem Sinne z.B. Henry Allan Ironside, Lectures on the revelation, o.J., S.82.

[35] Vgl. dazu näher Pentecost aaO, S.195.

[36] So z.B. Pentecost aaO, S.251, 297, 374.

[37] Deshalb treten viele Ausleger für einen früheren Beginn der in Offb 6 ff. geschilderten Ereignisse ein, z.B. Pohl aaO, S.145 f.; seiner Ansicht nach erstrecken sich die Kapitel von Offb 6 bis Offb 18 auf den gesamten Zeitraum von der Kreuzigung Jesu bis zu seiner Wiederkunft.- Nach Meinung wieder anderer Ausleger beginnt Offb 6 mit der Französischen Revolution (1789) oder mit dem Ersten Weltkrieg (1914).

[38] Pentecost aaO, S.233.

[39] Vgl. dazu näher Pentecost aaO, S.321-330.

[40] So z.B. Pentecost aaO, S.235.

[41] Auch René Pache, ein Vertreter der gegenteiligen Auffassung, gibt zu, dass das in 1. Thess 4,17 verwendete griechische Wort für ”hingerückt” zu sagen scheint, ”jemandem entgegengehen, um mit ihm zurückzukehren. Dieser Ausdruck schließt in sich..., daß Abholer und Abgeholte gemeinsam zu einem Ort nahe beim Treffpunkt zurückkehren” (aaO, S.101).

[42] So z.B. H. Wayne House in: Ice/Demy aaO, S.285 ff., S.291-312.

[43] Aus diesem Grund lehnt auch Feinberg in: Ice/Demy aaO, S.334 das Verständnis von ”apostasis” als ”Entrückung” mit Recht ab.

[44] Dies ist umstritten; nach anderer Ansicht beschreibt auch Daniel in Dan 7 die Weltherrschaft des Antichristen; vgl. z.B. Gassmann aaO, S.129 f.

[45] Christoph Clöter/Richard vom Baur, Prophetie und Erfüllung, 1973, S.89.

[46] So aber Pentecost aaO, S.192.

[47] Diese Ansicht vertritt etwa Marvin Rosenthal, The Pre-Wrath-Rapture of the Church; dt.: Was glauben Sie über die Wiederkunft Christi?, 1994. Zu dieser Position tendiert auch Gassmann, aaO, S. 160 ff.

[48] Ernst Modersohn, Er führet mich auf rechter Straße, 5. Aufl. 1948, S.174 f.